Sonntag, 17. Februar 2008

Die Besetzung Palästinas und die Psychologie akademischer Forschung in Israel

Im Rahmen der Heidelberger Hochschulreden, welche die Hochschule für jüdische Studien von Zeit zu Zeit veranstaltet, hat am 23. Jänner ein bestimmter Henryk M. Broder in der Aula der Universität Heidelberg gesprochen und zwar zum Thema: " 'Aus dem Antisemitismus könnte schon was werden, wenn sich die Juden seiner annehmen würden' – jüdischer Selbsthass von Karl Marx bis heute". Zum zahlreichen Publikum hat auch der Schreiber dieser Zeilen gezählt. Ebenfalls anwesend war Max, Mitstudent an der HfjS und Betreiber eines sehr interessanten Blogs namens Netz und Geschichte, wo ihr einen ziemlich ausführlichen Bericht über Broders Vortrag finden könnt.

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Abgesehen von diesem Hinweis auf Maxens Blog wollte ich an einen Punkt anknüpfen, mit dem Broder seinen Vortrag abgeschlossen hat. Als Beispiel für Autoantisemitismus in Israel hat er nämlich darauf hingewiesen, dass an der Hebräischen Universität kürzlich (Ende 2007) die Diplomarbeit von Tal Nitzan angenommen worden ist, einer Soziologin, die sich mit den Grenzen der Besetzung. Zur Seltenheit militärischer Vergewaltigung im israelisch-palästinensischen Konflikt befasst hat. Was Broder anscheinend nicht gewusst hat, ist übrigens, dass die Arbeit zudem von der Israeli Sociology Society ausgezeichnet worden ist.

Im Grunde genommen geht es bei dieser Arbeit darum, dass Besatzungssituationen in der Regel von weit verbreiteten Vergewaltigungen weiblicher Angehöriger des unterjochten Volkes durch männliche Angehörige des unterjochenden Militärs begleitet werden. Dass solche Vorfälle in den sog. besetzten Gebieten fast nie passieren, bilde folglich einen Ausnahmefall, den die Forschung zu erklären habe. Anhand von Interviews mit 25 Soldaten, Sekundärliteratur, Berichten von Menschenrechtsorganisationen und einschlägigen Zeitungsbeiträgen ist sie zum Schluss gekommen, dass dieses Phänomen, nämlich die Seltenheit der Vergewaltigungen, auf eine Entmenschlichung palästinensischer Frauen durch israelische Soldaten zurückgehe, welche die palästinensische Frauen folglich für unbegehrbar halten würden. Weiters nennt sie als Grund die Angst vor der sog. demographischen Drohung, da das Kind aus der in Israel üblichen, jüdisch-orthodoxen Sicht als Palästinenser gölte.

Inwiefern die Resultate dieser Forschung richtig oder falsch sind, vermag ich jetzt selbstverständlich nicht zu beurteilen. Klar ist jedenfalls, dass die Arbeit nicht so einfach verworfen werden kann, wie es die allermeisten, darunter auch Broder, tun. Beziehungen zwischen jüdischen Israelis und Palästinensern sind auch außerhalb der militärischen Begegnungssituationen äußerst selten, obwohl der Kontakt etwa zu den israelischen Arabern durchaus möglich und oft unvermeidbar ist. In Israel ist in diesem Winter, eben bis vor einigen Wochen, eine neue Serie ausgestrahlt worden, deren Drehbuch von einem meiner Lieblingsautoren geschrieben wurde, dem arabischen Israeli Sayed Kashua (->Authorseite im Perlentaucher). Eines der zentralen Themen war dabei die bald lustige, bald herausfordernde Beziehung zwischen dem jüdischen Freund des arabisch-muslimischen Protagonisten einerseits und der arabischen Freundin der (ebenfalls arabischen) Frau des Protagonisten andererseits. Für die meisten Israelis, jüdische wie muslimische, ist die Vorstellung von solch einer Beziehung eben noch neu.

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Ein anderer Grund aber, weshalb die Forschung Nitzans nicht leichtfertig als Autoantisemitismus verworfen werden kann, besteht in dem besonderen Sprachgebrauch, der diese Arbeit propagiert. Um dies zu beleuchten, muss ich für Seltenheit der Vergewaltigungen in den sog. besetzten Gebieten zuerst eine alternative Erklärung bieten. Ich will jetzt nicht die häufige Behauptung wiederholen, dass der israelische Soldat einfach moralischer ist als der übliche Besatzungssoldat in der modernen Geschichte. Mir geht es eher um eine Annahme, die der ganzen Forschung zugrunde liegt, nämlich, dass es sich in den sog. besetzten Gebieten um eine Besatzungssituation handelt.

Wie gesagt, geht Tal Nitzan davon aus, dass Besatzungssituationen in der Regel von Vergewaltigungsvorfällen begleitet sind bzw. sein sollen. Dieses Phänomen ist tatsächlich nachvollziehbar: Der Soldat befindet sich in einer fremden Umgebung. Er ist erschöpft. Sein Leben ist mehrmals riskiert worden, viele seiner Kameraden sind wohl gefallen, d.h. es hat sich viel Stress gehäuft, der sich jetzt entladen will. Den Gegner, d.h. die Männer der anderen Seite, hat er als Überlebender des Kampfes besiegt; deren Frauen und Töchter stehen jetzt, Trophäen gleichsam, zur Verfügung. Tatsächlich hat er seine Frau oder Freundin seit langem nicht mehr gesehen. Und andere moralische Instanzen wie Mutter, Schwestern etc. sind in dieser fremden Umgebung einfach nicht da.

Und nun stellt sich die Gretchenfrage: Befinden sich israelische Soldaten überhaupt in einer fremden Umgebung? Das ist notabene keine objektive Frage, sondern es geht hier, wie immer, um die Vorstellungswelt der Personen, deren Verhalten erforscht wird bzw. werden sollte. Nun entspricht die Vorstellungswelt der Soldaten nicht unbedingt der der Forscherin. Ganz im Gegenteil: Für die meisten israelischen Soldaten sind die sog. besetzten Gebiete keine fremde Umgebung, kein fremdes Land. Es handelt sich um das eigene Zuhause, und zwar nicht nur, weil das Land sehr klein ist und es keine klaren Grenzen gibt, sondern vor allem deswegen, weil manche Soldaten, d.h. die Offiziere, Freunde oder Kameraden der anderen Soldaten, wirklich in diesen Gebieten geboren und aufgewachsen sind, dort wohnen und leben, vielleicht auch schon ihre eigenen Familien dort gegründet haben.

Das gilt nicht nur in sozialer, sondern auch auch in geographischer Hinsicht. In den sog. besetzten Gebieten ist man nämlich fast überall von jüdisch-israelischen Ortschaften umgeben, deren Anblick man nicht vermeiden kann, selbst wenn man es wollte, und in denen Mütter und Schwestern des eigenen (vorgestellten) Volkes leben. Diese bewohnten Siedlungen erhalten also, wie anderwärts in Israel und überall auf der Welt, ganz automatisch das kollektive Über-Ich aufrecht, zumal es in vielen Fällen religiöse Siedlungen sind, die bekanntermaßen einen (ebenfalls den eigenen Vorstellungen nach) höheren moralischen Anspruch erheben. Mit anderen Worten: Für die meisten Israelis bilden die sog. besetzten Gebiete Teil der Heimat, in der trotz der herrschenden Machtverhältnisse Vergewaltigungen und Ähnliches undenkbar sind.

Dass in den sog. besetzten Gebieten keine Vergewaltigungen stattfinden, geht mithin vor allem darauf zurück, dass es dort für die meisten Israelis keine richtige Besatzungssituation gibt, jedenfalls nicht in soziologischer Hinsicht, und hier geht es ja um eine soziologische Fragestellung. Und damit kommen wir zum Eigentlichen: Das Ziel dieser Forschung ist nicht, für die Seltenheit der Vergewaltigungen eine Erklärung zu finden, sondern vielmehr, anhand eines ideologisch bedingten Sprachgebrauchs die eigene Vorstellungen zu propagieren, nämlich zu suggerieren, dass es sich hierbei trotz alledem doch um eine Besatzungssituation handeln würde.

Dieser eigentliche Zweck wird in Nitzans Diplomarbeit schon durch den Titel - "Die Grenzen der Besetzung" - optimal erfüllt und in der ganzen Diskussion, die darauf folgt, weiter verfolgt. Dass der Ansatz in soziologischer Hinsicht abwegig ist, spielt offensichtlich keine Rolle, weder bei der Annahme der Arbeit durch die Universitätsgutachter, noch bei der Auszeichnung durch die Israeli Sociology Society. Denn sowohl an der Universität als auch in der besagten Society verfolgen die Gutachter dasselbe Ziel: unter dem Vorwand akademischer Forschung ihre politisch-ideologischen Vorstellungen zu propagieren.

Und das, liebe Leser, ist in der akademischen Landschaft Israels kein Ausnahmefall.

Dienstag, 12. Februar 2008

Von Israel, seinem Gott und einem sonderbaren Widder

Vor drei Wochen, zu jener vorgeschichtlichen Zeit, als bei mir noch vier Klausuren bevorstanden und ich kaum Zeit zum Blogging hatte, haben wir den Wochenabschnitt "Jitro" gelesen: Exodus 18:1 - 20:22. Dieser Wochenabschnitt zeichnet sich durch die religionsgeschichtlich hochinteressante Schilderung der Bundesschließung aus, die relativ ausführlich beschrieben wird - insbesondere wenn man bedenkt, wie wortkarg biblische Erzählungen ansonsten sein können.

Bei der Lektüre ist mir ein seltsamer Vers aufgefallen, nämlich Ex. 19:13, den die rev. Elberfelder (eine der besten Übersetzungen) folgendermaßen überträgt: "Keine Hand darf ihn [=den Berg] berühren, denn sonst muss er [=der Berührende] gesteinigt oder erschossen [Fußnote: "mit einem Pfeil oder Wurfgeschoss"] werden; ob Tier oder Mensch, er darf nicht am Leben bleiben. Erst wenn das Widderhorn anhaltend ertönt, sollen sie zum Berg hinaufsteigen."

Das Interessante an diesem Vers ist, dass die Bibel hier eigentlich von keinem Widderhorn redet, wie sie es etwa in Josua 6:5 doch tut. Dort steht nämlich ganz ausdrücklich: "Wenn das Widderhorn geblasen wird und ihr den Hörnerschall hört, soll das ganze Volk in lautes Kriegsgeschrei ausbrechen [...]", während hier, in Exodus, schlicht vom anhaltend ertönenden "Widder" die Rede ist. Dies vertuschen die allermeisten Übersetzungen, die in die Fußstapfen biblischer Exegese treten. Selbst die renommierte Elberfelder schreibt konformistisch "Widderhorn" hin und begnügt sich mit einer korrigierenden Fußnote: "w. [=wörtlich] der Widder"

Um welchen Widder geht es hier also? Wo ist er plötzlich hergekommen und was macht er jetzt hier überhaupt? Wieso darf er ausgerechnet bei der Bundesschließung eine so große Rolle spielen? Und warum versuchen es alle Kommentatoren zu vertuschen?

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Auf die Besonderheit dieses Verses bin ich vor etlichen Jahren dank Theodor Reik aufmerksam geworden, einem Jünger Sigmund Freuds und hervorragenden Bibelgelehrten. Damals habe ich an der Hebräischen Universität in Jerusalem studiert und zur Finanzierung dieses Studiums zwar nicht nur, aber vornehmlich Fachbücher aus dem Deutschen ins Hebräische übersetzt. Das waren meistens tiefenpsychologische Texte, die beim Resling-Verlag erschienen sind: eine unter sehr wenigen privaten, akademisch-wissenschaftlichen Verlagsanstalten in Israel (neben den privaten gibt es natürlich auch die Universitäts- und Institutsverlage, die aber kaum ins Hebräische übersetzen lassen, weil sie genug hebräisches Material von israelischen Dozenten zu behandeln haben). Unter den Texten, mit deren Übersetzung mich der Verlag beauftragte, befand sich also auch eine von Theodor Reiks psychoanalytischen Studien des jüdischen Rituals (Das Ritual. Psychoanalytische Studien. Mit einer Vorrede von Sigmund Freud. Leipzig, Wien u. Zürich: Internationaler Psychoanaltischer Verlag, 2., ergänzte Auflage, 1928 [1919]).

In dieser Studie, dem Schofar, widmet sich Reik der Bedeutung und Funktion des Widderhorns im jüdischen Ritual seit den schleierhaften Anfängen bis zur Gegenwart. Dabei erklärt er auch das seltsame Auftauchen des Widders in Ex. 19:13. Da das deutsche Original in meiner Bibliothek in Israel Staub sammelt und meine hebräische Übersetzung den meisten Lesern unverständlich wäre, muss ich mich hier auf eine englischsprachige Übersetzung verlassen, die ich eben im Netz gefunden habe. Ich führe mithin einfach den Absatz an, in dem Reik den besagten Vers prägnant erläutert:

If the god who was originally worshipped by the Jews was a bull or a ram, then we can understand why his voice sounded from the horn of a ram. The position of the ram as a totem animal follows from its especial holiness as an expiatory sacrifice for guilt. The statement of the prophet Amos, "Jahve roars" [vgl. Amos 1:2], betrays the original and more direct nature of Jahve's demonstration. Let us recall the literal translation of Exodus XIX: "When the ram soundeth long, they shall come up to the mount". If this passage is inserted into the more recent report from an older tradition, as textual criticism indicates, it is very probable that the older view of the totemistic god here stands side by side with the more highly developed one. We have recognised that the voice of the ram's horn is the voice of God. Modern exegesis, having neglected this connection, has found it necessary to assume a different voice. We thus see three historical stages of development in the conception of the divine voice, namely, the voice of the ram, the sounds which God made by blowing a ram's horn, and the incomparable voice which is removed from all that is human and animal, the voice of God, purified of all earthly dross. It is evident that human beings recognise their God by his voice, as the children do their mother in the fairy tale [aufgeschrieben von den Gebrüdern Grimm] of the wolf and the seven kids.


Die Antworten auf unsere obigen Fragen lauten also auf gut Deutsch folgendermaßen: Der anhaltend ertönende Widder ist ein Überbleibsel totemistischer Gottesvorstellungen, die zu vorbiblischen Zeiten in den israelitischen Stämmen als Teil des alten Orients allgemein verbreitet waren. Als Totem spielt der Widder eine zentrale Rolle bei der Bundesschließung bzw. dem Ritual, in dem an den Bund erinnert und dieser erneuert wird. Schließlich wurde diese Andeutung für spätere Generationen so unerträglich, dass sie das Horn hineininterpretieren mussten, um die Totemvorstellung zu verdrängen. Das Widderhorn weist zwar selbst auf seine Herkunft hin (wie Reik in seiner Studie erklärt), ist aber von dieser weit genug entfernt, damit es für die sublimierten Gottesvorstellungen späterer Generationen nicht gefährlich war, zumal es noch regelmäßig zum rituellen Einsatz gelangte und unter diesem Aspekt verschiedene "verkoschernde" bzw. vertraut machende Interpretationen bekam.

Interessanterweise ist dieser Vers längst nicht der einzige, in dem sich Hinweise auf totemistische Phasen im frühen Israel finden lassen. Um euch einen kleinen Vorgeschmack zu geben: Auch die Bundestafeln lassen viel erkennen! Kurz gefasst, ist Reiks Studie sehr empfehlenswert, und selbst diejenigen, die Reiks Thesen nicht annehmen wollen oder können, sollen sich seine spannenden Fragestellungen nicht entgehen lassen. Also: Hin in die nächste Universitätsbibliothek! Ansonsten ist momentan das Ritual mit drei weiteren Studien antiquarisch auf ZVAB für €64-73 zu erwerben.

Abschließen möchte ich in einem persönlichen Ton: Heute würde ich sehr gerne mal ein geisteswissenschaftliches Fachbuch aus dem Hebräischen ins Deutsche übersetzen, aber leider ist das hierzulande eine Seltenheit. In Deutschland bzw. dem deutschsprachigen Mitteleuropa werden hebräische Fachbücher fast nur über eine Drittsprache, meistens also aus dem Amerikanischen (nunmehr abermals) ins Deutsche übertragen. Schade, aber vielleicht meldet sich noch einer der Verlage, an die ich mich mal gewandt habe.

Freitag, 8. Februar 2008

Geschichtswerdung

Eva Herman, DJ Tomek, Juliane Ziegler: Wer kommt als Nächster auf den Scheiterhaufen?

Man kann nicht ewiglich verhindern, dass der Nationalsozialismus und insbesondere die durchgängig als "Holocaust" bezeichnete Judenverfolgung und -vernichtung 1933-1945 langsam, aber ständig historisiert wird. Und zwar samt allem, was damit zusammenhängt: Mehr Differenzierung, weniger Pauschalisierung, und ja, nicht zuletzt auch dümmlicher Humor. Wir Menschen sind zuweilen halt dümmlich. Und wir dürfen so auch bleiben (als ob wir anders könnten).

Waren also der Nationalsozialismus im Allgemeinen und der Holocaust im Besonderen nur eine Episode im unaufhörlichen Fluss der Geschichte? Jein. Insofern nicht, als sie im Vergleich mit ähnlichen Begebenheiten mehrere Extremitäten aufweisen, und diese Erkenntnis wird uns als Forscher sowie als Gesellschaft weiterhin begleiten. Und insofern doch, als sie, wie alles Menschliche, im Rückblick umso verkraft- und integrierbarer werden, je ferner sie zurückliegen, d.h. je breiter unsere Perspektive ist. Diese natürliche Entwicklung ist unausbleiblich, findet sie doch schon seit 1945 statt. Auf ihre Ausreifung soll, nein: muss man sich vorbereiten.

Schöne Klausurzeit allerseits
Un a git Schabbes
Yoav