Dienstag, 12. Februar 2008

Von Israel, seinem Gott und einem sonderbaren Widder

Vor drei Wochen, zu jener vorgeschichtlichen Zeit, als bei mir noch vier Klausuren bevorstanden und ich kaum Zeit zum Blogging hatte, haben wir den Wochenabschnitt "Jitro" gelesen: Exodus 18:1 - 20:22. Dieser Wochenabschnitt zeichnet sich durch die religionsgeschichtlich hochinteressante Schilderung der Bundesschließung aus, die relativ ausführlich beschrieben wird - insbesondere wenn man bedenkt, wie wortkarg biblische Erzählungen ansonsten sein können.

Bei der Lektüre ist mir ein seltsamer Vers aufgefallen, nämlich Ex. 19:13, den die rev. Elberfelder (eine der besten Übersetzungen) folgendermaßen überträgt: "Keine Hand darf ihn [=den Berg] berühren, denn sonst muss er [=der Berührende] gesteinigt oder erschossen [Fußnote: "mit einem Pfeil oder Wurfgeschoss"] werden; ob Tier oder Mensch, er darf nicht am Leben bleiben. Erst wenn das Widderhorn anhaltend ertönt, sollen sie zum Berg hinaufsteigen."

Das Interessante an diesem Vers ist, dass die Bibel hier eigentlich von keinem Widderhorn redet, wie sie es etwa in Josua 6:5 doch tut. Dort steht nämlich ganz ausdrücklich: "Wenn das Widderhorn geblasen wird und ihr den Hörnerschall hört, soll das ganze Volk in lautes Kriegsgeschrei ausbrechen [...]", während hier, in Exodus, schlicht vom anhaltend ertönenden "Widder" die Rede ist. Dies vertuschen die allermeisten Übersetzungen, die in die Fußstapfen biblischer Exegese treten. Selbst die renommierte Elberfelder schreibt konformistisch "Widderhorn" hin und begnügt sich mit einer korrigierenden Fußnote: "w. [=wörtlich] der Widder"

Um welchen Widder geht es hier also? Wo ist er plötzlich hergekommen und was macht er jetzt hier überhaupt? Wieso darf er ausgerechnet bei der Bundesschließung eine so große Rolle spielen? Und warum versuchen es alle Kommentatoren zu vertuschen?

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Auf die Besonderheit dieses Verses bin ich vor etlichen Jahren dank Theodor Reik aufmerksam geworden, einem Jünger Sigmund Freuds und hervorragenden Bibelgelehrten. Damals habe ich an der Hebräischen Universität in Jerusalem studiert und zur Finanzierung dieses Studiums zwar nicht nur, aber vornehmlich Fachbücher aus dem Deutschen ins Hebräische übersetzt. Das waren meistens tiefenpsychologische Texte, die beim Resling-Verlag erschienen sind: eine unter sehr wenigen privaten, akademisch-wissenschaftlichen Verlagsanstalten in Israel (neben den privaten gibt es natürlich auch die Universitäts- und Institutsverlage, die aber kaum ins Hebräische übersetzen lassen, weil sie genug hebräisches Material von israelischen Dozenten zu behandeln haben). Unter den Texten, mit deren Übersetzung mich der Verlag beauftragte, befand sich also auch eine von Theodor Reiks psychoanalytischen Studien des jüdischen Rituals (Das Ritual. Psychoanalytische Studien. Mit einer Vorrede von Sigmund Freud. Leipzig, Wien u. Zürich: Internationaler Psychoanaltischer Verlag, 2., ergänzte Auflage, 1928 [1919]).

In dieser Studie, dem Schofar, widmet sich Reik der Bedeutung und Funktion des Widderhorns im jüdischen Ritual seit den schleierhaften Anfängen bis zur Gegenwart. Dabei erklärt er auch das seltsame Auftauchen des Widders in Ex. 19:13. Da das deutsche Original in meiner Bibliothek in Israel Staub sammelt und meine hebräische Übersetzung den meisten Lesern unverständlich wäre, muss ich mich hier auf eine englischsprachige Übersetzung verlassen, die ich eben im Netz gefunden habe. Ich führe mithin einfach den Absatz an, in dem Reik den besagten Vers prägnant erläutert:

If the god who was originally worshipped by the Jews was a bull or a ram, then we can understand why his voice sounded from the horn of a ram. The position of the ram as a totem animal follows from its especial holiness as an expiatory sacrifice for guilt. The statement of the prophet Amos, "Jahve roars" [vgl. Amos 1:2], betrays the original and more direct nature of Jahve's demonstration. Let us recall the literal translation of Exodus XIX: "When the ram soundeth long, they shall come up to the mount". If this passage is inserted into the more recent report from an older tradition, as textual criticism indicates, it is very probable that the older view of the totemistic god here stands side by side with the more highly developed one. We have recognised that the voice of the ram's horn is the voice of God. Modern exegesis, having neglected this connection, has found it necessary to assume a different voice. We thus see three historical stages of development in the conception of the divine voice, namely, the voice of the ram, the sounds which God made by blowing a ram's horn, and the incomparable voice which is removed from all that is human and animal, the voice of God, purified of all earthly dross. It is evident that human beings recognise their God by his voice, as the children do their mother in the fairy tale [aufgeschrieben von den Gebrüdern Grimm] of the wolf and the seven kids.


Die Antworten auf unsere obigen Fragen lauten also auf gut Deutsch folgendermaßen: Der anhaltend ertönende Widder ist ein Überbleibsel totemistischer Gottesvorstellungen, die zu vorbiblischen Zeiten in den israelitischen Stämmen als Teil des alten Orients allgemein verbreitet waren. Als Totem spielt der Widder eine zentrale Rolle bei der Bundesschließung bzw. dem Ritual, in dem an den Bund erinnert und dieser erneuert wird. Schließlich wurde diese Andeutung für spätere Generationen so unerträglich, dass sie das Horn hineininterpretieren mussten, um die Totemvorstellung zu verdrängen. Das Widderhorn weist zwar selbst auf seine Herkunft hin (wie Reik in seiner Studie erklärt), ist aber von dieser weit genug entfernt, damit es für die sublimierten Gottesvorstellungen späterer Generationen nicht gefährlich war, zumal es noch regelmäßig zum rituellen Einsatz gelangte und unter diesem Aspekt verschiedene "verkoschernde" bzw. vertraut machende Interpretationen bekam.

Interessanterweise ist dieser Vers längst nicht der einzige, in dem sich Hinweise auf totemistische Phasen im frühen Israel finden lassen. Um euch einen kleinen Vorgeschmack zu geben: Auch die Bundestafeln lassen viel erkennen! Kurz gefasst, ist Reiks Studie sehr empfehlenswert, und selbst diejenigen, die Reiks Thesen nicht annehmen wollen oder können, sollen sich seine spannenden Fragestellungen nicht entgehen lassen. Also: Hin in die nächste Universitätsbibliothek! Ansonsten ist momentan das Ritual mit drei weiteren Studien antiquarisch auf ZVAB für €64-73 zu erwerben.

Abschließen möchte ich in einem persönlichen Ton: Heute würde ich sehr gerne mal ein geisteswissenschaftliches Fachbuch aus dem Hebräischen ins Deutsche übersetzen, aber leider ist das hierzulande eine Seltenheit. In Deutschland bzw. dem deutschsprachigen Mitteleuropa werden hebräische Fachbücher fast nur über eine Drittsprache, meistens also aus dem Amerikanischen (nunmehr abermals) ins Deutsche übertragen. Schade, aber vielleicht meldet sich noch einer der Verlage, an die ich mich mal gewandt habe.

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