Donnerstag, 5. Juni 2008

Umzug?

Liebe Leser,

ich schreibe zuletzt zwar ziemlich selten, aber es wäre wohl am Platze, euch alle und insbesondere die Abonnenten darauf hinzuweisen, dass ich seit einiger Zeit, wenn überhaupt, dann aber auf chronologs.de meine kaum verwertbaren Gedanken kundgebe:

http://www.chronologs.de/yoavsapir

Was mit dieser Website noch werden soll, bleibt vorerst dahingestellt, bis der Götter Wille sich bekundet.

Liebe Grüße
Yoav

Dienstag, 6. Mai 2008

So ganz reif...

...ist die liberale Demokratie in der Bundesrepublik also noch nicht: Wenn eine Hetzkampagne zum Amtsverzicht führt, ist es ein deutliches Zeichen dafür, dass selbst Träger der politischen Kultur von der Öffentlichkeit nichts Besseres erwarten. Und wenn diese resignieren, was sollten sich normale Bürger denken?

Freitag, 18. April 2008

Frohes Freiheitsfest

Oder, wie es eine Jerusalemer Freundin von mir aus dem charedischen Stadtteil Har-Nof kürzlich formuliert hat:

In jedem Geschlecht und Zeitalter ist jeder verpflichtet, sich vorzustellen, als ob es den Auszug aus Ägypten gegeben hätte.

Der Einzug aus Ägypten: Eine Nordreichtradition, Teil des dortigen Mosekultes (nicht zu verwechseln mit dem jahwistischen Staatskult des Südreiches).

Ansonsten auch a git Schabbes
Euer Yoav

Dienstag, 1. April 2008

Interreligiöser Dialog?

In der letzten Ausgabe der Jüdischen Allgemeinen fragt Micha Brumlik, ob "der jüdisch-katholische Dialog noch möglich" sei. Doch abgesehen von der ganzen Diskussion über die Ostermesse: Ist ein jüdisch-katholischer Dialog überhaupt nötig?

Wo ist die Bescheidenheit, die sich hierbei gebührt? Wer wäre schon so kühn, um sich nicht im eigenen Zuhause, sondern im Umgang mit den Mitmenschen eine religiöse Identität anzuziehen, obwohl man von dem, auf den man sich dabei berufen will, nichts weiß, weil keiner davon etwas wissen kann?

Wer darf ihn nennen?
Und wer bekennen:
"Ich glaub ihn!"?
Wer empfinden
Und sich unterwinden
Zu sagen: "Ich glaub ihn nicht!"?

Faust zu Margarete, Faust I 3432-3437

Wenn es um ihn (oder sie, oder es...) geht, hört das Theater besser auf. Denn die Rolle, die man spielt, ob als Jude, Christ oder was anderes, ergibt einfach keinen Sinn mehr. Vor ihm sind wir alle ja nur noch Menschen, ob dumme oder kluge, jedenfalls solche, die sich ihrer erkenntnistheoretischen Grenzen bewusst sein sollen.

Doch noch schwerer als ihn zu vertreten
der meistens schweigt
und wohl nicht weiß
sich dagegen gut zu wehren:

Wer wäre schon so kühn, so frech oder aber so naiv, um sich als Vertreter einer ganzen Glaubensgemeinschaft auszugeben? Es kann ja selbst der Papst höchstens für den Vatikan sprechen und zwar in seiner Funktion als Staatsoberhaupt, auf keinen Fall kann er aber davon Zeugnis ablegen, was Abermillionen Katholiken, denen er noch nie begegnet ist, denken und wollen. Geschweige denn auf jüdischer Seite, wo es nicht einmal solch eine Institution gibt wie die Weltkirche. Also kann bei allem guten Willen kein interreligiöser, sondern bestenfalls nur zwischenmenschlicher Dialog stattfinden.

Und ist es nicht tatsächlich an der Zeit, dass wir einander einfach so begegnen, wie wir sind und nur sein können, nämlich als Menschen?

Hast du Ideen, oder haben Ideen dich?

Früchte des Zorns, Brennen

Liebe Menschen auf beiden, allen "Seiten": Lasst uns bitte mit diesem Theater aufhören. Es bringt uns einfach nicht weiter.

Sonntag, 30. März 2008

Pessach-Rätsel: Wer weiß?

Liebe Leser,

dank sonnigem Frühlingswetter in Pessachstimmung gekommen, habe ich mich heute an eine Lern-Session erinnert, die ich vor etlichen Jahren mit meinem damaligem Chavruse am akademischen Beit-Midrasch der Hebräischen Universität in Jerusalem gemacht habe und bei der es um die verschiedenen Feste ging, die man heute schlichtweg unter "Pessach" subsumiert. Also, ohne großes Aufheben - ich hob a Kasche far Eich:

Wann findet das eigentliche "Pessach" statt?

Dazu drei Hinweise:

1. Es findet nicht dann statt, wenn alle gut gewaschen und schön angezogen am Tisch beisammen sitzen und die Haggadah vorlesen.

2. Nicht zufälligerweise habe ich hier vom sächlichen Genus Gebrauch gemacht, das im Hebräischen zwar nicht existiert, im Deutschen aber das einzig richtige ist, wenn man vom "Pessach" spricht.

3. Anzugeben sind ein hebräisches Datum und eine Tageszeit, am besten auch die einschälgige Bibelstelle.

Wer will, kann auch angeben, welch biblisches Fest doch an dem Tag und zu der Tageszeit stattfindet, wo im rabbinischen Judentum die Haggadah gelesen wird.

Tja, für manch einen ist das bestimmt eine "Un-Kasche", für andere dürfte es vielleicht etwas schwieriger sein... Unter den richtig Beantwortenden wird jedenfalls ein Schlisch Gan-Eden, d.h. ein Drittel vom Leben im paradiesischen Jenseits verlost (wer das nicht nachzuvollziehen vermag, der bzw. die soll mal in Israel nach seiner Lebensgefährtin bzw. ihrem Lebensgefährten suchen). Zweiter Preis: gloria mundi. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.

P.S. Der kommende Seder wird mein 29. sein und dennoch der erste, den ich aufgrund meines Aufenthalts in Heidelberg bzw. der immer höher steigenden Öl- und Flugpreise nicht im Familienkreis verbringen werde... Einladungen, insbesondere ostjüdisch-polnischer Art, würden sehr gerne in Empfang genommen! Besten Dank im Vorhinein :-)

Dienstag, 25. März 2008

Apropos zweihundertjähriges Jubiläum

Damit ihr euch da
Nicht allzu sehr gelangweilt fühlet
Und uns'rer Sittlichkeit zum Trotz
Vom falschen Geist getrieben würdet:



...ins Leben gerufen vom seligen Gustaf Gründgens (Hamburger Inszenierung 1960).

Freitag, 21. März 2008

Die Purim-"Schande"

Selbstbestimmung? Souveränität?

Vielleicht nur Selbsthilfe? Selbstverteidigung?

Wozu, wenn sich ein Jude (mal abgesehen vom zuhälterischen Handel mit einem wehrlosen Mädchen als Mittel zum Zweck) Zugang zum Hofe verschaffen kann? Zwar endet die Geschichte vom Hofjuden Mordechei sehr positiv, aber was für ein Beispiel soll das überhaupt sein?

Der biblische "Jude Mordechai" und die Verarbeitungen des "Jud Süß" sind schließlich die beiden Seiten derselben Medaille, sprich: desselben literatischen Motivs.

Es ist durchaus klar, warum solch eine Geschichte in den religiösen Jahreszyklus eines zur Passivität gezwungenen Judentums aufgenommen wurde. Nun ist es aber gleichgültig, wie das Motiv konstruiert, die Geschichte erzählt wird: Hier gibt es kein guter Grund zum Feiern mehr. Es sei denn, man sehnt sich wieder nach derartigen Existenzverhältnissen. Ich aber ziehe den Rechtsstaat vor.

Im Buch Esther kommt übrigens erstmals die Bezeichnung "Jude" bzw. "jüdisch" in ihrem heute noch üblichen Sinne vor (Mordechai soll ja eigentlich ein Benjaminiter gewesen sein, vgl. ebd. 2:5). Es ist eben der für das Exil kennzeichnende, bald erzwungene, bald selbstgewollte Mangel an Bodenständigkeit, der den "Juden" ermöglicht und aufrechterhält.

Ob das nun Konsequenzen für den den Titel dieses Blogs haben sollte?

Donnerstag, 20. März 2008

Wo sich Links- und Rechtsextremismus treffen

Nicht nur Horst Mahler:

In ihrer morgigen Ausgabe bringt die National-Zeitung ein ganzseitiges Interview mit dem sonst doch linksextremen Ilan Pappé zum Thema "Ethnische Säuberung als Staatsziel".

Tja. Das politische Spektrum ist eigentlich ein Kreis, auf dem sich Links und Rechts nicht nur in ihrer mildesten, sondern auch in ihrer extremsten Form treffen.

Übrigens lehrt Pappé seit kürzerem an der britischen University of Exeter, was mit den immer bizarreren Formen des britischen Antisemitismus wohl im Einklang steht.

Und die unausbleibliche Frage sei hiermit vorweggenommen: Es gehört dazu, tunlichst auf dem Laufenden zu sein, wenn man sich mit deutscher Zeitgeschichte befasst.

Frohes Purim
Yoav

Donnerstag, 13. März 2008

Demokratische Werte

Vor genau einer Woche sind in Jerusalem acht Schüler ermordet, viele andere verletzt worden.

Und?

Der Terrorist hat zu diesem Zweck ein MG benutzt, das den Palästinensern im Rahmen des sog. Friedensprozesses vom israelischen Militär geliefert wurde.

Und?

Für den Friedensprozess war in der israelischen Politik v. a. Shimon Peres verantwortlich, der auch die Waffenlieferungen trotz öffentlicher Kritik durchgesetzt hat.

Und?

Heute ist Shimon Peres der israelische Präsident bzw. Staatsoberhaupt.

Und?

Auf diesen etwas merkwürdigen Zusammenhang hat im Fernsehen der Mann hingewiesen, der den Terroristen erschossen hat.

Und?

Das Interview ist sofort unterbrochen worden.

Aber?

Wir sind die einzige Demokratie im Nahen Osten.

Oder?

Montag, 10. März 2008

Who's the Boss?

...lautet nicht nur der Titel einer US-amerikanischen Sitcom-Serie, mit der meine Generation aufgewachsen ist, sondern offensichtlich auch die Überschrift der heutigen Situation in der deutschen Politik. Denn anscheinend ist einem mir bislang unbekannten Antrag des Verteidigungsministeriums auf Bewilligung der Wiedereinführung des Eisernen Kreuzes beim eigentlichen Machthaber, dem Zentralrat der Juden, nicht stattgegeben worden. So scheint jedenfalls aus einem gestrigen Spiegel-Online-Artikel hervorzugehen: "Mit deutlichen Worten hat der Zentralrat der Juden den Vorschlag zur Einführung eines Tapferkeitsordens für die Bundeswehr zurückgewiesen."

Tja. Zurückgewiesen. Muss wohl eine endgültige Entscheidung sein. Oder kann man noch bei Frau Knobloch Revision einlegen? Da fragt man sich, ob das Verteidigungsministerium nicht bessere Chancen hätte, seine Politik durchzuführen, wenn es mal ganz tapfer und mutig die Gründung des Stephan-Kramer-Ordens vorschlüge. Der steht nämlich in keinen, ja gar keinen "unseligen Traditionen", wie es mit dem Eisernen Kreuz der Fall sein sollte.

Tatsächlich finde ich Kramers pauschalisierte Vorstellung von militärischen Traditionen in Deutschland bzw. dem deutschen Mitteleuropa ahistorisch und verwirrt. Denn diese Traditionen lassen sich erst im gesamteuropäischen, zeitlich richtigen Zusammenhang nachvollziehen: Waren etwa Napoleons Eroberungen im damaligen Zusammenhang weniger "unselig" als die Befreiungskriege, im Rahmen deren das Eiserne Kreuz 1813 eingeführt wurde? War der französische Militarismus vor sowie während des Deutsch-Französischen Krieges und des Ersten Weltkrieges irgendwie weniger "unselig" als der deutsche? Natürlich nicht.

Dass nun mitten in Paris, etwa im pompösen Triumphbogen oder im stark militaristisch geprägten Hôtel des Invalides dieselben Traditionen (nur vom umgekehrten Gesichtspunkt aus) gefeiert werden, und zwar ohne dass sie entkontextualisiert mit den späteren Erscheinungen des Nationalsozialismus bzw. des Vichy-Faschismus in Verbindung gebracht werden - das würde Kramer wohl gerne ebenfalls verbieten. Glücklicherweise ist die französische Öffentlichkeit aber nicht der Meinung, dass es ihn überhaupt was angeht. Ob solch eine Haltung in absehbarer Zeit auch hierzulande möglich wäre?

Für den Hinweis auf den Spiegel-Online-Artikel bedanke ich mich bei Dr. Michael Blume (der sich in seinem Blog aber noch nicht auf den Artikel bezogen hat; vielleicht kommt das noch).

Sonntag, 9. März 2008

Der Holocaustkult: Skizze einer Analyse

Inwiefern ist die Holocaustaufarbeitung in den letzten Jahrzehnten Religion bzw. Zivilreligion geworden?

Die öffentliche Vergangenheitsbewältigung weist folgende Züge auf, die auf eine solche Entwicklung hinweisen:

1. Kultstätten bzw. Heiligtümer: Museen, Gedenkstätten, Mahnmale etc., in denen man sich zum Holocaust bekennt bzw. sein Bekenntnis durch passive Teilnahme bestätigt (in der Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem brennt im Einklang mit Tempeltraditionen sogar eine ewige Flamme).

2. Theologische Seminare: Unzählbare Forschungsinstitute, Lehrstühle usw.

3. Credo: Während im Christentum die Dreieinigkeit die zenrale Rolle spielt, steht im Mittelpunkt des Holocaustkultes die (offensichtlich aufgerundete) Sechs-Millionen-Zahl, die in allen Heiligtümern, aber auch anderwärts, etwa in Gedenkreden bzw. Predigten u. Ä. postuliert wird.

4. Märtyrer und Heilige: Anna Frank, Selma Meerbaum-Eisinger, Henryk Goldszmit bzw. Janusz Korczak und, und, und... Durch die beim Opferkult stattfindende, rituell verfestigte Identifikation mit solchen Gestalten integriert man sich in das Narrativ der "guten" Opfer bei gleichzeitiger Selbstabgrenzung von den "bösen" Tätern.

5. Kanonische Texte: Jede Menge, sogar in filmischer Form (etwa Claude Lanzmanns Shoah, Frankreich 1985).

6. Festtage: Offiziell wird der Holocaust als zentrale Erscheinung des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Jänner (Befreiung von Auschwitz) gefeiert. Insbesondere in Deutschland kreist das Jahr auch um den 9. November (Reichskristallnacht). In Berlin wird sogar der 28. Februar (Fabrikaktion) festlich begangen. Mit den Festtagen hängt das Ritual eng zusammen.

7. Gaben: Die Heiligtümer und die theologischen Seminare müssen ja finanziert werden, sei es durch Steuergelder oder auch durch freiwillige Spenden.

8. Geistlichkeit: Und zwar hierarchisiert, von den Wärtern in den Heiligtümern über die Guides als Vermittler des Katechismus bis hin zu den oberpriestlichen Forschern und Dozenten. Der ganze Klerus lebt praktisch von den Gaben, die die Gesellschaft dem Holocaustkult entrichtet.

9. Monopol auf die legitime Interpretation: Wie überall geht es auch bei dieser Religion vornehmlich um Macht, die die Priester- und Levitenzunft nicht zuletzt auch zur Bewahrung der finanziellen Basis benötigt. Anders Denkende werden mithin, wie damals von der katholischen Kirche, zum Schutze des eigenen Kultgegenstandes durch dogmatische Gesetzgebung verfolgt (vgl. David Irving, Ernst Zündel).

Soweit die Skizze. Und jetzt: eure Kritik daran?

Nachtrag [10.03.2008]:

10. Internationalismus bzw. Ökumenismus: Im Gegensatz zu nationalstaatlichen Zivilreligionen ist die Ausbreitung des Holocaustkultes nicht geographisch - und schon gar nicht ethnisch oder konfessionell beschränkt. Ganz im Gegenteil: Der Klerus erhebt Anspruch auf "Katholizismus" im wahrsten Sinne des Wortes (alle betreffend, alles umfassend); der Kult wird demzufolge immer weiter verbreitet; es entstehen dort neue Heiligtümer, wo es bis vor kurzem noch keine gegeben hat (z. B. in Washington D.C., Paris, Berlin, Warschau und an unglaublich vielen anderen Orten); seine heiligen Texte erfreuen sich, insbesondere in filmischer Form, grenzüberschreitender Rezeption; und auch seine Feste, vor allem der 27. Jänner, werden international gefeiert.

Zuerst veröffentlicht auf Chronologs.de

Sonntag, 17. Februar 2008

Die Besetzung Palästinas und die Psychologie akademischer Forschung in Israel

Im Rahmen der Heidelberger Hochschulreden, welche die Hochschule für jüdische Studien von Zeit zu Zeit veranstaltet, hat am 23. Jänner ein bestimmter Henryk M. Broder in der Aula der Universität Heidelberg gesprochen und zwar zum Thema: " 'Aus dem Antisemitismus könnte schon was werden, wenn sich die Juden seiner annehmen würden' – jüdischer Selbsthass von Karl Marx bis heute". Zum zahlreichen Publikum hat auch der Schreiber dieser Zeilen gezählt. Ebenfalls anwesend war Max, Mitstudent an der HfjS und Betreiber eines sehr interessanten Blogs namens Netz und Geschichte, wo ihr einen ziemlich ausführlichen Bericht über Broders Vortrag finden könnt.

*

Abgesehen von diesem Hinweis auf Maxens Blog wollte ich an einen Punkt anknüpfen, mit dem Broder seinen Vortrag abgeschlossen hat. Als Beispiel für Autoantisemitismus in Israel hat er nämlich darauf hingewiesen, dass an der Hebräischen Universität kürzlich (Ende 2007) die Diplomarbeit von Tal Nitzan angenommen worden ist, einer Soziologin, die sich mit den Grenzen der Besetzung. Zur Seltenheit militärischer Vergewaltigung im israelisch-palästinensischen Konflikt befasst hat. Was Broder anscheinend nicht gewusst hat, ist übrigens, dass die Arbeit zudem von der Israeli Sociology Society ausgezeichnet worden ist.

Im Grunde genommen geht es bei dieser Arbeit darum, dass Besatzungssituationen in der Regel von weit verbreiteten Vergewaltigungen weiblicher Angehöriger des unterjochten Volkes durch männliche Angehörige des unterjochenden Militärs begleitet werden. Dass solche Vorfälle in den sog. besetzten Gebieten fast nie passieren, bilde folglich einen Ausnahmefall, den die Forschung zu erklären habe. Anhand von Interviews mit 25 Soldaten, Sekundärliteratur, Berichten von Menschenrechtsorganisationen und einschlägigen Zeitungsbeiträgen ist sie zum Schluss gekommen, dass dieses Phänomen, nämlich die Seltenheit der Vergewaltigungen, auf eine Entmenschlichung palästinensischer Frauen durch israelische Soldaten zurückgehe, welche die palästinensische Frauen folglich für unbegehrbar halten würden. Weiters nennt sie als Grund die Angst vor der sog. demographischen Drohung, da das Kind aus der in Israel üblichen, jüdisch-orthodoxen Sicht als Palästinenser gölte.

Inwiefern die Resultate dieser Forschung richtig oder falsch sind, vermag ich jetzt selbstverständlich nicht zu beurteilen. Klar ist jedenfalls, dass die Arbeit nicht so einfach verworfen werden kann, wie es die allermeisten, darunter auch Broder, tun. Beziehungen zwischen jüdischen Israelis und Palästinensern sind auch außerhalb der militärischen Begegnungssituationen äußerst selten, obwohl der Kontakt etwa zu den israelischen Arabern durchaus möglich und oft unvermeidbar ist. In Israel ist in diesem Winter, eben bis vor einigen Wochen, eine neue Serie ausgestrahlt worden, deren Drehbuch von einem meiner Lieblingsautoren geschrieben wurde, dem arabischen Israeli Sayed Kashua (->Authorseite im Perlentaucher). Eines der zentralen Themen war dabei die bald lustige, bald herausfordernde Beziehung zwischen dem jüdischen Freund des arabisch-muslimischen Protagonisten einerseits und der arabischen Freundin der (ebenfalls arabischen) Frau des Protagonisten andererseits. Für die meisten Israelis, jüdische wie muslimische, ist die Vorstellung von solch einer Beziehung eben noch neu.

*

Ein anderer Grund aber, weshalb die Forschung Nitzans nicht leichtfertig als Autoantisemitismus verworfen werden kann, besteht in dem besonderen Sprachgebrauch, der diese Arbeit propagiert. Um dies zu beleuchten, muss ich für Seltenheit der Vergewaltigungen in den sog. besetzten Gebieten zuerst eine alternative Erklärung bieten. Ich will jetzt nicht die häufige Behauptung wiederholen, dass der israelische Soldat einfach moralischer ist als der übliche Besatzungssoldat in der modernen Geschichte. Mir geht es eher um eine Annahme, die der ganzen Forschung zugrunde liegt, nämlich, dass es sich in den sog. besetzten Gebieten um eine Besatzungssituation handelt.

Wie gesagt, geht Tal Nitzan davon aus, dass Besatzungssituationen in der Regel von Vergewaltigungsvorfällen begleitet sind bzw. sein sollen. Dieses Phänomen ist tatsächlich nachvollziehbar: Der Soldat befindet sich in einer fremden Umgebung. Er ist erschöpft. Sein Leben ist mehrmals riskiert worden, viele seiner Kameraden sind wohl gefallen, d.h. es hat sich viel Stress gehäuft, der sich jetzt entladen will. Den Gegner, d.h. die Männer der anderen Seite, hat er als Überlebender des Kampfes besiegt; deren Frauen und Töchter stehen jetzt, Trophäen gleichsam, zur Verfügung. Tatsächlich hat er seine Frau oder Freundin seit langem nicht mehr gesehen. Und andere moralische Instanzen wie Mutter, Schwestern etc. sind in dieser fremden Umgebung einfach nicht da.

Und nun stellt sich die Gretchenfrage: Befinden sich israelische Soldaten überhaupt in einer fremden Umgebung? Das ist notabene keine objektive Frage, sondern es geht hier, wie immer, um die Vorstellungswelt der Personen, deren Verhalten erforscht wird bzw. werden sollte. Nun entspricht die Vorstellungswelt der Soldaten nicht unbedingt der der Forscherin. Ganz im Gegenteil: Für die meisten israelischen Soldaten sind die sog. besetzten Gebiete keine fremde Umgebung, kein fremdes Land. Es handelt sich um das eigene Zuhause, und zwar nicht nur, weil das Land sehr klein ist und es keine klaren Grenzen gibt, sondern vor allem deswegen, weil manche Soldaten, d.h. die Offiziere, Freunde oder Kameraden der anderen Soldaten, wirklich in diesen Gebieten geboren und aufgewachsen sind, dort wohnen und leben, vielleicht auch schon ihre eigenen Familien dort gegründet haben.

Das gilt nicht nur in sozialer, sondern auch auch in geographischer Hinsicht. In den sog. besetzten Gebieten ist man nämlich fast überall von jüdisch-israelischen Ortschaften umgeben, deren Anblick man nicht vermeiden kann, selbst wenn man es wollte, und in denen Mütter und Schwestern des eigenen (vorgestellten) Volkes leben. Diese bewohnten Siedlungen erhalten also, wie anderwärts in Israel und überall auf der Welt, ganz automatisch das kollektive Über-Ich aufrecht, zumal es in vielen Fällen religiöse Siedlungen sind, die bekanntermaßen einen (ebenfalls den eigenen Vorstellungen nach) höheren moralischen Anspruch erheben. Mit anderen Worten: Für die meisten Israelis bilden die sog. besetzten Gebiete Teil der Heimat, in der trotz der herrschenden Machtverhältnisse Vergewaltigungen und Ähnliches undenkbar sind.

Dass in den sog. besetzten Gebieten keine Vergewaltigungen stattfinden, geht mithin vor allem darauf zurück, dass es dort für die meisten Israelis keine richtige Besatzungssituation gibt, jedenfalls nicht in soziologischer Hinsicht, und hier geht es ja um eine soziologische Fragestellung. Und damit kommen wir zum Eigentlichen: Das Ziel dieser Forschung ist nicht, für die Seltenheit der Vergewaltigungen eine Erklärung zu finden, sondern vielmehr, anhand eines ideologisch bedingten Sprachgebrauchs die eigene Vorstellungen zu propagieren, nämlich zu suggerieren, dass es sich hierbei trotz alledem doch um eine Besatzungssituation handeln würde.

Dieser eigentliche Zweck wird in Nitzans Diplomarbeit schon durch den Titel - "Die Grenzen der Besetzung" - optimal erfüllt und in der ganzen Diskussion, die darauf folgt, weiter verfolgt. Dass der Ansatz in soziologischer Hinsicht abwegig ist, spielt offensichtlich keine Rolle, weder bei der Annahme der Arbeit durch die Universitätsgutachter, noch bei der Auszeichnung durch die Israeli Sociology Society. Denn sowohl an der Universität als auch in der besagten Society verfolgen die Gutachter dasselbe Ziel: unter dem Vorwand akademischer Forschung ihre politisch-ideologischen Vorstellungen zu propagieren.

Und das, liebe Leser, ist in der akademischen Landschaft Israels kein Ausnahmefall.

Dienstag, 12. Februar 2008

Von Israel, seinem Gott und einem sonderbaren Widder

Vor drei Wochen, zu jener vorgeschichtlichen Zeit, als bei mir noch vier Klausuren bevorstanden und ich kaum Zeit zum Blogging hatte, haben wir den Wochenabschnitt "Jitro" gelesen: Exodus 18:1 - 20:22. Dieser Wochenabschnitt zeichnet sich durch die religionsgeschichtlich hochinteressante Schilderung der Bundesschließung aus, die relativ ausführlich beschrieben wird - insbesondere wenn man bedenkt, wie wortkarg biblische Erzählungen ansonsten sein können.

Bei der Lektüre ist mir ein seltsamer Vers aufgefallen, nämlich Ex. 19:13, den die rev. Elberfelder (eine der besten Übersetzungen) folgendermaßen überträgt: "Keine Hand darf ihn [=den Berg] berühren, denn sonst muss er [=der Berührende] gesteinigt oder erschossen [Fußnote: "mit einem Pfeil oder Wurfgeschoss"] werden; ob Tier oder Mensch, er darf nicht am Leben bleiben. Erst wenn das Widderhorn anhaltend ertönt, sollen sie zum Berg hinaufsteigen."

Das Interessante an diesem Vers ist, dass die Bibel hier eigentlich von keinem Widderhorn redet, wie sie es etwa in Josua 6:5 doch tut. Dort steht nämlich ganz ausdrücklich: "Wenn das Widderhorn geblasen wird und ihr den Hörnerschall hört, soll das ganze Volk in lautes Kriegsgeschrei ausbrechen [...]", während hier, in Exodus, schlicht vom anhaltend ertönenden "Widder" die Rede ist. Dies vertuschen die allermeisten Übersetzungen, die in die Fußstapfen biblischer Exegese treten. Selbst die renommierte Elberfelder schreibt konformistisch "Widderhorn" hin und begnügt sich mit einer korrigierenden Fußnote: "w. [=wörtlich] der Widder"

Um welchen Widder geht es hier also? Wo ist er plötzlich hergekommen und was macht er jetzt hier überhaupt? Wieso darf er ausgerechnet bei der Bundesschließung eine so große Rolle spielen? Und warum versuchen es alle Kommentatoren zu vertuschen?

*

Auf die Besonderheit dieses Verses bin ich vor etlichen Jahren dank Theodor Reik aufmerksam geworden, einem Jünger Sigmund Freuds und hervorragenden Bibelgelehrten. Damals habe ich an der Hebräischen Universität in Jerusalem studiert und zur Finanzierung dieses Studiums zwar nicht nur, aber vornehmlich Fachbücher aus dem Deutschen ins Hebräische übersetzt. Das waren meistens tiefenpsychologische Texte, die beim Resling-Verlag erschienen sind: eine unter sehr wenigen privaten, akademisch-wissenschaftlichen Verlagsanstalten in Israel (neben den privaten gibt es natürlich auch die Universitäts- und Institutsverlage, die aber kaum ins Hebräische übersetzen lassen, weil sie genug hebräisches Material von israelischen Dozenten zu behandeln haben). Unter den Texten, mit deren Übersetzung mich der Verlag beauftragte, befand sich also auch eine von Theodor Reiks psychoanalytischen Studien des jüdischen Rituals (Das Ritual. Psychoanalytische Studien. Mit einer Vorrede von Sigmund Freud. Leipzig, Wien u. Zürich: Internationaler Psychoanaltischer Verlag, 2., ergänzte Auflage, 1928 [1919]).

In dieser Studie, dem Schofar, widmet sich Reik der Bedeutung und Funktion des Widderhorns im jüdischen Ritual seit den schleierhaften Anfängen bis zur Gegenwart. Dabei erklärt er auch das seltsame Auftauchen des Widders in Ex. 19:13. Da das deutsche Original in meiner Bibliothek in Israel Staub sammelt und meine hebräische Übersetzung den meisten Lesern unverständlich wäre, muss ich mich hier auf eine englischsprachige Übersetzung verlassen, die ich eben im Netz gefunden habe. Ich führe mithin einfach den Absatz an, in dem Reik den besagten Vers prägnant erläutert:

If the god who was originally worshipped by the Jews was a bull or a ram, then we can understand why his voice sounded from the horn of a ram. The position of the ram as a totem animal follows from its especial holiness as an expiatory sacrifice for guilt. The statement of the prophet Amos, "Jahve roars" [vgl. Amos 1:2], betrays the original and more direct nature of Jahve's demonstration. Let us recall the literal translation of Exodus XIX: "When the ram soundeth long, they shall come up to the mount". If this passage is inserted into the more recent report from an older tradition, as textual criticism indicates, it is very probable that the older view of the totemistic god here stands side by side with the more highly developed one. We have recognised that the voice of the ram's horn is the voice of God. Modern exegesis, having neglected this connection, has found it necessary to assume a different voice. We thus see three historical stages of development in the conception of the divine voice, namely, the voice of the ram, the sounds which God made by blowing a ram's horn, and the incomparable voice which is removed from all that is human and animal, the voice of God, purified of all earthly dross. It is evident that human beings recognise their God by his voice, as the children do their mother in the fairy tale [aufgeschrieben von den Gebrüdern Grimm] of the wolf and the seven kids.


Die Antworten auf unsere obigen Fragen lauten also auf gut Deutsch folgendermaßen: Der anhaltend ertönende Widder ist ein Überbleibsel totemistischer Gottesvorstellungen, die zu vorbiblischen Zeiten in den israelitischen Stämmen als Teil des alten Orients allgemein verbreitet waren. Als Totem spielt der Widder eine zentrale Rolle bei der Bundesschließung bzw. dem Ritual, in dem an den Bund erinnert und dieser erneuert wird. Schließlich wurde diese Andeutung für spätere Generationen so unerträglich, dass sie das Horn hineininterpretieren mussten, um die Totemvorstellung zu verdrängen. Das Widderhorn weist zwar selbst auf seine Herkunft hin (wie Reik in seiner Studie erklärt), ist aber von dieser weit genug entfernt, damit es für die sublimierten Gottesvorstellungen späterer Generationen nicht gefährlich war, zumal es noch regelmäßig zum rituellen Einsatz gelangte und unter diesem Aspekt verschiedene "verkoschernde" bzw. vertraut machende Interpretationen bekam.

Interessanterweise ist dieser Vers längst nicht der einzige, in dem sich Hinweise auf totemistische Phasen im frühen Israel finden lassen. Um euch einen kleinen Vorgeschmack zu geben: Auch die Bundestafeln lassen viel erkennen! Kurz gefasst, ist Reiks Studie sehr empfehlenswert, und selbst diejenigen, die Reiks Thesen nicht annehmen wollen oder können, sollen sich seine spannenden Fragestellungen nicht entgehen lassen. Also: Hin in die nächste Universitätsbibliothek! Ansonsten ist momentan das Ritual mit drei weiteren Studien antiquarisch auf ZVAB für €64-73 zu erwerben.

Abschließen möchte ich in einem persönlichen Ton: Heute würde ich sehr gerne mal ein geisteswissenschaftliches Fachbuch aus dem Hebräischen ins Deutsche übersetzen, aber leider ist das hierzulande eine Seltenheit. In Deutschland bzw. dem deutschsprachigen Mitteleuropa werden hebräische Fachbücher fast nur über eine Drittsprache, meistens also aus dem Amerikanischen (nunmehr abermals) ins Deutsche übertragen. Schade, aber vielleicht meldet sich noch einer der Verlage, an die ich mich mal gewandt habe.

Freitag, 8. Februar 2008

Geschichtswerdung

Eva Herman, DJ Tomek, Juliane Ziegler: Wer kommt als Nächster auf den Scheiterhaufen?

Man kann nicht ewiglich verhindern, dass der Nationalsozialismus und insbesondere die durchgängig als "Holocaust" bezeichnete Judenverfolgung und -vernichtung 1933-1945 langsam, aber ständig historisiert wird. Und zwar samt allem, was damit zusammenhängt: Mehr Differenzierung, weniger Pauschalisierung, und ja, nicht zuletzt auch dümmlicher Humor. Wir Menschen sind zuweilen halt dümmlich. Und wir dürfen so auch bleiben (als ob wir anders könnten).

Waren also der Nationalsozialismus im Allgemeinen und der Holocaust im Besonderen nur eine Episode im unaufhörlichen Fluss der Geschichte? Jein. Insofern nicht, als sie im Vergleich mit ähnlichen Begebenheiten mehrere Extremitäten aufweisen, und diese Erkenntnis wird uns als Forscher sowie als Gesellschaft weiterhin begleiten. Und insofern doch, als sie, wie alles Menschliche, im Rückblick umso verkraft- und integrierbarer werden, je ferner sie zurückliegen, d.h. je breiter unsere Perspektive ist. Diese natürliche Entwicklung ist unausbleiblich, findet sie doch schon seit 1945 statt. Auf ihre Ausreifung soll, nein: muss man sich vorbereiten.

Schöne Klausurzeit allerseits
Un a git Schabbes
Yoav

Freitag, 18. Jänner 2008

Wir(?) glücklichen Exponate

"Schafft die Museen ab!" lautet der Titel eines sehr guten Artikels von Philipp Blom (-> Autorseite im Perlentaucher) in der Zeit vom 03. Jänner 2008. Da ich keine Zeit habe, den nicht so kurzen Artikel zusammenzufassen, begnüge ich mich hier mit ein paar Zitaten, die m. E. das Wesentliche vermitteln:

Allerdings haben wir uns längst an das Leben in der Vergangenheit gewöhnt: nicht nur in Museen, auch auf Konzert- und Theaterprogrammen sind wir überwältigt davon. Unsere Kultur selbst ist museal.


Wir brauchen den Ballast der Vergangenheit. Ballast hat die Funktion, dem Vorwärtsgehenden Gewicht und Richtung zu geben. Wer weiterkommen will, braucht Ballast, er muss aber auch bereit sein, einen Teil davon über Bord zu werfen.


Und die prägnante Schlussaussage:

Wir brauchen nichts so sehr wie Mut zur Vergänglichkeit.


Seitdem überlege ich mir, inwiefern Bloms eher allgemeine Feststellungen auf die Juden in Deutschland zutreffen. Genauer gesagt: auf die Funktion des Jüdischen im heutigen Deutschland. Die lange Geschichte der Juden in Deutschland war - und ist noch - so wandelreich, dass man im Rückblick sagen kann: Deutschland hat einen Judenfetisch.

Ob "noch immer" oder "erst recht", ist eine Frage der historischen Perspektive. So oder so führt Deutschland seit 18 Jahren bekanntermaßen ein einzigartiges Projekt durch: die vermeintliche Neubelebung des Vergangenen, das man vormals mit noch größerer Leidenschaft loswerden wollte. Dass es sich dabei um den Import von Menschen handelt, spielt eine genauso geringe Rolle wie die Tatsache, dass die Angelockten kaum etwas mit denjenigen zu tun haben, als deren Ersatz sie fungieren bzw. figurieren sollen. Hauptsache ist nur: Das Vergangene ersteht scheinbar wieder auf, lässt am einst Verdrängten nunmehr obsessiv festhalten und stellt so sicher, dass das endlich Wiedergekehrte nicht das tut, was alles Menschliche früher oder später tun muss: aus dem Blickfeld verschwinden, ja in Vergessenheit geraten.

Mit der gezielten Anwerbung von mehreren Hunderttausenden ehem. Staatsbürger der UdSSR, deren Leistung alleine darin besteht, dass sie für die Behörden der DDR, dann auch für die der BRD das Vergangene darstellten bzw. als Juden (aber notabene: nicht in religiöser Hinsicht!) qualifizierten, hat Deutschland jegliche Chance auf Normalität um Jahrzehnte hinausgeschoben.

Ob es sich im seit Kriegsende erstmals "wiedervereinigten" Deutschland auch anders hätte entwickeln können, ist abermals eine Frage der historiographischen Interpretation. Die im Endeffekt unverwirklichte Alternative könnte z. B. die israelische Szene in Berlin darstellen, für die die neue Judenpolitik Deutschlands im Großen und Ganzen kaum eine Rolle spielt. Jedenfalls hat sich die Geschichte so entwickelt wie wir sie heute kennen, und nun ist Deutschland wohl das einzige Land, in dem Unsummen in die Wiederherstellung von Synagogen investiert werden, die selbst nach dem hunderttausendfachen Judenimport kaum als solche in Anspruch genommen werden und, ihrem eigentlichen Zweck zwangsläufig entfremdet, eher als scheinbar lebendige Museen die städtische Landschaft zieren (vgl. Rykestraße).

Und die importierten Exponate? Sie scheinen sich kaum gegen die ihnen zugeschriebene Funktion zu wehren. Eher im Gegenteil: Sie genießen die materiellen und andersartigen Vorzüge ihrer neuen Stellung, mit der ihre außerordentliche Zuwanderung in den Westen fest gekoppelt ist. In diesem Zusammenhang kommt mir eine Erfahrung in den Sinn, die ich bei der heurigen 9.-November-Gedenkstunde hier in Heidelberg machen durfte. Dazu im nächsten Beitrag - bis dann wünsche ich euch

a gitn Schabbes

Nachtrag [25.01.2008]: Ich habe mich entschlossen, den Beitrag zur Gedenkstunde nicht zu veröffentlichen.

Mittwoch, 16. Jänner 2008

Das sechzigste Jahr

Parlamentsmitglieder fördern eine Initiative des mirabeauschen Militärs, nach der u. a. das Wahlrecht vom Militärdienst abhängig gemacht werden soll.

Staatsbürger werden weiterhin von Terroristen ermordet, deren Milizen die Staatsregierung selbst mit Waffen ausstattet.

Das Universitätswesen lässt sich mangels Studenten-Dozenten-Rektoren-Solidarität zusehends auflösen.

Und die Züge auf dem praktisch zweispurigen Landeseisenbahnnetz fahren noch immer nicht rechtzeitig ab.

[Schweigeminute]


P.S.
Bei dieser Gelegenheit möchte ich euch auf einen wochentäglichen Comicstrip hinweisen, der einem bei der Bewahrung der geistigen Gesundheit zu helfen vermag: Dry Bones

Samstag, 12. Jänner 2008

Ein kleines Stück bubersche Poesie für die neue Woche

Eine Stelle, die mir besonders gut gefallen hat:

Geordnete Welt ist nicht die Weltordnung. Es gibt Augenblicke des verschwiegnen Grundes, in denen Weltordnung geschaut wird, als Gegenwart. Da wird im Flug der Ton vernommen, dessen undeutbares Notenbild die geordnete Welt ist. Diese Augenblicke sind unsterblich, diese sind die vergänglichsten: kein Inhalt kann aus ihnen bewahrt werden [?], aber ihre Kraft geht in die Schöpfung und in die Erkenntnis des Menschen ein, Strahlen ihrer Kraft dringen in die geordnete Welt und schmelzen sie wieder und wieder auf. So die Geschichte des Einzelnen, so die des Geschlechts.

Aus: Martin Buber, Ich und Du (Heidelberg: Lambert Schneider, 1958 [1923]), S. 30-31

Zum obigen Fragezeichen: Wenn ich recht verstehe, was er mit diesen Augenblicken meint, dann bin ich mir nicht so sicher, dass diese Aussage sich verallgemeinern lässt. Jedenfalls stellt sich die Frage, ob diese Stelle nicht schon an und für sich den Beweis dafür liefert, dass aus diesen Augenblicken mannigfaltigen Inhalt bzw. Einblicke in die Beschaffenheit der Schöpfung doch bewahrt werden können (wie Buber es hier ja selbst tut).

Git Woch
Yoav

P.S.
Eine Zumutung? In The Economist weiß man offensichtlich nicht zwischen als Polen und als Juden Verfolgten zu unterscheiden (beachtet das dritte bzw. letzte Bild).

Donnerstag, 10. Jänner 2008

Roland Koch und das politische Klima

Roland Koch schlägt in der Öffentlichkeit bekanntermaßen Wellen. Doch seine Einstellung darf uns gar nicht überraschen. Er ist nur eine von mehreren Blumen im politischen Garten, gewachsen auf dem Nährboden des allgemeinen Integrationsdiskurses. Die Problematik dieses vorherrschenden Denkmusters besteht in der falschen Vorstellung, die ihm zugrunde liegt.

Es wird nämlich suggeriert, dass es eine durch die inländische Herkunft bedingte Gesinnungs- bzw. "Werte"-Gemeinschaft gäbe, zu der "die Ausländer" (v. a. aus dem Südosten, nicht aber die blitzschnell eingebürgerten "Siebenbürger Sachsen") schon aufgrund ihrer ausländischen Herkunft nicht dazugehören - es sei denn natürlich, dass sie sich in die inländlische Gemeinschaft "integriert" hätten. Also wird "den Ausländern" - gemeint sind natürlich nie Neuankömmlinge aus dem Westen und dem Norden - pauschale Verbesserungsbedürftigkeit unterstellt.

Dabei wird vertuscht, dass es diese inländische Wertegemeinschaft nicht gibt - und auch gar nicht geben kann: Viele Einheimische haben Schwierigkeiten, ihren Platz in der bürgerlichen Gesellschaftsordnung zu finden und sich an die bürgerlichen Normen anzupassen. Noch bilden Inländer die überwältigende Mehrheit der hiesigen Delinquenten. Jedoch wird in Bezug auf die Inländer nicht verallgemeinert, und von der Integrationsbedürftigkeit der Deutschen ist in der Öffentlichkeit kein Wort zu hören. Denn Deutsche, das versteht doch jeder, brauchen Hilfe; Ausländer hingegen müssten integriert werden.

Warum fördern also die Politiker der bürgerlichen Mitte trotzdem den Integrationsdiskurs? Ich vermute, dass sie sich gerade deswegen dieser Rhetorik bedienen, weil sie eine exklusive Wirkung hat. Mit ihr wird ein angenehmes Wir-Gefühl verbreitet, das die Wählerschaft zufrieden stellt: "Sind wir nicht toll? Wir haben ja unsere Werte!", redet sich der Junge mit dem Hauptschulabschluss ein und fühlt sich gleich, als würde er dazugehören.

Die bürgerlichen Politiker hoffen, womöglich unbewusst, dass er sich für diese billige Identitätsstiftung mit dem richtigen Stimmzettel noch bedanken wird. Gute Aussichten wird dann der Junge noch immer nicht haben - dafür aber einen moralischen Anspruch... Und den Alten von morgen wird es wohl auch recht sein, sich mangels Arbeitskräfte mit niedrigeren Renten zufrieden geben und auf den gewohnten Pflegestandard verzichten zu müssen, solange Deutschland seine "Werte" noch bewahrt.

Kurzum: Das Problem mit Roland Koch ist nicht sein Extremismus, sondern sein Konformismus.

P.S.
Wie immer... hat sich auch in diesem Fall der Zentralrat gleich zu Wort gemeldet. Chajm hat die Sache schon auf den Punkt gebracht. Auch Adi hat sich kurz dazu geäußert (wenn auch weniger kritisch). Die Preisverleihung an Angela Merkel habe ich übrigens in diesem Beitrag vom 07. November 2007 hinterfragt (ganz am Ende). Eine Frage bleibt aber offen: Was, um Himmels willen, geht es den Zentralrat als Bundesvertretung jüdischer Gemeinden und Landesverbände überhaupt an?

Dienstag, 8. Jänner 2008

Was ist jüdische Literatur?

Heute war eine Professorin für hebräische und jüdische Literatur mit mir darüber einig, dass es eigentlich keine Literaturwissenschaft, sondern höchstens nur verschiedene Lesarten geben kann, die schließlich gleichgültig sind, sobald sie plausibel genug begründet worden sind. Eine erfreuchliche Erfahrung war es für mich, denn beim früheren Studium in Jerusalem ist meine Position auf eher feindselige Reaktionen unter den Dozenten gestoßen. Allerdings war ich dort auch in einem literaturwissenschaftlichen Fach eingeschrieben, was in Zusammenhang mit dieser Position für manche Dozenten wohl eine Zumutung gewesen sein darf. Insbesondere aber für diejenigen, denen es zu Zeiten des allumfassenden Abbaus ganz dringend darum geht, dass ihr Ast nicht abgesägt wird - obwohl die Literaturwissenschaft gerade dazu notwendig ist, damit es Leute gibt, die mit Literatur und Literaturwissenschaft kritisch umgehen können.

Noch schwieriger ist aber die Frage nach der (oder den) jüdischen Literatur(en) als eigenständigem Fach. Mich dünkt, dass es so etwas, wenn überhaupt, nur insofern geben kann, als ein literarischer Text - ganz abgesehen vom Schriftsteller und dessen Herkunft, der Sprache und der Thematik - von jüdischer Begrifflichkeit Gebrauch macht und sich demzufolge denjenigen nicht erschließt, denen bestimmte Vorkenntnisse des Judentums fehlen. Schmuel Josef Agnons "vehaja heakow lemischor" ist ein Beispiel dafür, was aber nicht heißt, dass Agnons Geschichten alle als "jüdische Literatur" qualifizieren können: Viele von denen sind nämlich ganz allgemein nachvollziehbar. Zwar führt diese Begriffsbestimmung zum Verzicht auf vieles, was heute als jüdische Literatur erforscht wird, aber das muss ja kein Nachteil sein, wenn man von der Politik bzw. vom (an und für sich verständlichen) Wunsch absieht, den beruflichen Ast zu bewahren.

"Jüdische Literatur" ist ein kulturabhängiges Konstrukt. Will man ganz wissenschaftlich an die Sache herangehen, so hat man nur eine Möglichkeit, um das "Jüdische" an Texten in verschiednen Kulturkreisen empirisch herauszuarbeiten: Man muss statistisch ausgewählten Leuten aus dem jeweiligen Kulturkreis (aber nicht als Gruppe) namenlose Texte vorlegen und sie um Folgendes bitten:

1. festzustellen, ob es unter den vorgelegten Texten auch Texte gibt, die von jüdischen Autoren stammen und/oder eine jüdische Thematik aufweisen;
2. zu erklären, warum sie zu diesem Schluss gekommen sind, d.h. woran sie es erkannt haben (also eigentlich: erkannt zu haben glauben).

Manche Leute bekommen dann nur Texte, die von jüdischen Autoren stammen; andere eine gemischte Auswahl; und wiederum andere nur solche Texte, von denen keiner meint, dass sie als "jüdische Literatur" qualifizieren. Außerdem kann man bei einigen die erste Frage umformulieren: Welche der vorliegenden Texte stammen von jüdischen Autoren? Und erst recht interessant wird es, wenn man die Leute, die nur "nicht-jüdische" Texte vorgelegt bekommen haben, danach fragt, woran an diesen Texten zu erkennen ist, dass sie von jüdischen Autoren stammen und/oder eine "jüdische" Thematik haben.

Nachtrag [12.01.2008]: Apropos Literaturwissenschaft möchte ich auf einen interessanten Kurzbericht in der Neuen Zürcher Zeitung vom 17. November 2007 hinweisen: "Der Heidelberger Komparatist Horst-Jürgen Gerigk hat sich durch eine ebenso eigenwillige wie originelle Literaturtheorie einen Namen gemacht. Gerigk insistiert auf der Kommentar-Unbedürftigkeit des Kunstwerks: Jeder Text führt die Grundbedingungen seiner Verstehbarkeit bereits mit sich. Die Aufgabe der Literaturwissenschaft besteht mithin nicht in der kulturhistorischen Kommentierung von Texten, sondern in der Darstellung ihres ästhetischen Eigenwerts. [...]" aus: Literatur als Beruf und Berufung

Sonntag, 6. Jänner 2008

Vorsehung: Unbedingt positiv?

Wie in wohl fast jeder religiösen oder philosophischen Lehre ist die Frage nach der göttlichen Einmischung in die Weltgeschehnisse auch im jüdischen "Bücherregal" ziemlich oft aufgegriffen worden.

Im Grunde genommen wird zwischen allgemeiner und individueller Vorsehung unterschieden. Allgemeine Vorsehung bedeutet, dass Gott sein Augenmerk auf die Wesensart als solche richte, d.h. nicht auf jedes einzelne Lebewesen innerhalb der Art, z. B.: Gott habe den Löwen als eine Tierart geschaffen und befasst sich seit der Schöpfung nicht mehr damit, was sich in dem Leben jedes einzelnen Löwen abspielt (daher wird die allgemeine Vorsehung manchmal auch als das Fehlen von Vorsehung bzw. als die Vorherrschaft der Zufälligkeit im Rahmen der von Gott bestimmten Naturgesetzte beschrieben). Demgegenüber bedeutet individuelle Vorsehung, dass Gott alles zur Kenntnis nehme, was der Einzelne tut, und dementsprecehend das Leben dieses Einzelnen gestalte; darauf beruht z. B. der Glaube an Belohnung und Bestrafung (für Verdienste bzw. Sünden).

Zwischenbemerkung: Die reformchristliche Prädestinationslehre, in der alles Geschehende einerseits von Gott ausgehe, andererseits aber nicht auf die Entscheidungen des Einzelnen zurückzuführen, sondern noch vor der Schöpfung der Welt vorherbestimmt worden sei, hat meines Wissens kein jüdisches Gegenstück.

Was die Einzelheiten betrifft, so gehen die Meinungen auseinander. Maimonides hat geglaubt (Moreh Newochim III Kap. 17-18), dass die individuelle Vorsehung nur bei Menschen möglich sei und dass der Grad der Vorsehung bzw. das Ausmaß der göttlichen Einmischung in das Leben des Einzelnen sich nach dem Weisheitsgrad desselben richte (wenn ich mich nicht irre, bilden bei Maimonides Weisheit und Vorsehung verschiedene Aspekte von ein und demselben: der Nähe zu Gott, der die Weisheit an Einzelne verschenkt und mithin auch besser auf diese aufpasst).

Andere (insbesondere im essentialistischen Gedankengut des Chassidismus) sind der Auffassung, dass die individuelle Vorsehung sich auf Israel beschränke und zwar ganz abgesehen vom jeweiligen Weisheitsgrad (hier kann man schon merken, dass in manchen chassidisch-kabbalistischen Lehren Israel aus der Menschheit herausgehoben, die Menschen dabei als höchstes aller tierischen Lebewesen angewesen werden; aber das ist ein anderes Thema).

So weit also die diesmalige Verallgemeinerung. Und warum bin ich darauf überhaupt eingegangen? Weil in den jetzigen Wochenabschnitten (der letzten Woche: "Wa'era"; der jetzigen: "Bo") Gott sich auf eine Art und Weise einmischt, die man immer wieder neu hinterfragen muss. Er fügt nämlich den an diesem Weltgeschehnis eigentlich kaum beteiligten Bewohnern Ägyptens ganz ganz harte Plagen zu, obwohl:

1. es nur der Pharao ist, der Israel nicht ausziehen lässt, und
2. Gott selbst derjenige ist, der den Pharao daran hindert, Israel ausziehen zu lassen.

Und wozu das Ganze? Damit Gott auf diese Art und Weise seine Macht verkündet (vgl. 2. Mose 7:3, 10:1), d.h. damit er sich Ruhm und Ehre verschafft (vgl. etwa 2. Mose 14:4 - gehört schon zum nächsten Wochenabschnitt bzw. zur Seedurchquerung). Von einer (gerechten) Bestrafung kann hier also keine Rede sein (und die Kommentatoren geben sich tatsächlich Mühe, Rechtfertigungen zu finden).

Was haben hier also mit einer Gottesvorstellung zu tun, in der Gott einen Menschen dazu zwingt, ihm den Anlass zu geben, diesen einen und zahlreiche andere zugleich ebenso grausam wie zusammenhangslos zu verfolgen. Vergleicht man es mit anderen Bibelstellen, etwa mit Jesaja 6:9 ff (wo Gottes Zorn gegen das eigene Volk gerichtet wird, während dieses von Gott nunmehr dazu verurteilt wird, nicht zu verstehen, sich nicht zu bekehren und nicht heilen zu lassen), so gewinnt man den Eindruck, dass dieses "Spiel mit sich selbst" auf Kosten lebendiger Menschen eigentlich ein Charakteristikum dieser Gottheit ist, zumindest in der damaligen Zeit.

Inwiefern dieses Verhalten für damalige Götter typisch oder aber das Privilegium einer alleinigen Gottheit war, vermag ich nicht zu sagen; dazu kenne ich mich mit altorientalischer Religiongeschichte kaum gut genug aus. Aber selbst wenn diese Geschichte keine Ausnahme bildet, bleibt eine Frage schweben:

Ist es immer bzw. unbedingt gut, mit göttlicher Vorsehung versehen zu werden? Oder funktioniert die Schöpfung manchmal ungefähr so wie jedes hierarchische System: Je seltener man ins Visier des Chefs gerät, umso geringer sind die Chancen, dass es einem schlecht geht?

Samstag, 5. Jänner 2008

Eine kleine Frage zur Judenmission

Es kommt mir manchmal so vor, als gäbe es nicht wenige, die der Judenmission zu wehren suchen. Na gut, aber da frage ich mich: Was ist eigentlich die "Judenmission"?

Zunächst muss man in diesem Zusammenhang "Juden" definieren: Damit sind wohl Menschen gemeint, die nach einem der üblichen Auffassungen jüdischen Rechts als "Juden" gelten können.

Nun ist die "Mission" zu hinterfragen. Im Duden-Universalwörterbuch steht dazu (unter Punkt 4): "Verbreitung einer religiösen Lehre unter Andersgläubigen, bes. der christlichen Lehre unter Heiden". Aber da taucht die Frage auf: Ist das, was etwa Chabad-Lubawitsch tut, nicht ebenfalls "Mission"? Immerhin versuchen sie Menschen zu einer unter unzählig vielen religiösen Lehren zu bekehren.

Aber warum soll man es eigentlich auf eine "religiöse" Lehre beschränken? Man kann seine Mitmenschen doch auch zum Sozialismus, zum demokratischen Parlamentarismus usw. usf. bekehren. Es ist z. B. eine der Aufgaben der Bundeszentrale für politische Bildung, "das demokratische Bewusstsein zu festigen" (aus der Website der bpb): Mission par excellence.

Warum soll man also gegen die eine Mission, nicht aber gegen die andere sein? Liegt es nicht näher, dass der Mensch als solcher meistens in der Lage ist, selbst darüber zu entscheiden, ob und welche der auf dem Markt beworbenen bzw. einfach zur Verfügung stehenden Gedanken- und sonstigen Güter er konsumieren möchte? ...solange das Ganze zwangsfrei vonstatten geht.

Vielleicht meinen aber die Gegner der Judenmission, dass die christlichen Lehren gefährlicher sind als andere. Nur frage ich mich dann: Warum soll man ausschließlich die Menschen, die man jeweils für Juden hält, vor dieser Gefahr schützen? Warum soll man die anderen im Stich lassen dürfen?

Oder geht es darum, dass die für Juden Gehaltenen weniger dazu fähig sein sollten, solch persönliche Entscheidungen selbst zu treffen?

Git Woch
Yoav

P.S.
Diejenigen, die es noch nicht gelesen haben, möchte ich auf eine interessante Diskussion bei Chajm über die Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg hinweisen.

Freitag, 4. Jänner 2008

Von Gott, dem Glauben und dem Rabbinerberuf: Vorschabbesdike Reflexionen

Gott.

Was ist "Gott"?
Was oder wer ist er/sie/es in seiner jetzigen Beziehung zu mir? zu dir?
König? Vater?
Freund? Feind?
Eine Mischung?
Was ganz anderes?
...darf sich jeder, muss sich keiner fragen.

Aber lässt sich überhaupt eine Aussage machen, die über den jetzigen Augenblick hinausgeht, ohne dabei, wenn nicht gerade dadurch, in die Gefahr des Dogmatismus zu geraten?

*

Mit der Glaubensfrage darf es nichts zu tun haben. Denn die Glaubensfrage ist genauso irreführend wie die nur scheinbar positive, hierzulande gar nicht so seltene Feststellung, Israel habe ein Recht zu existieren: Wenn schon, dann hat Israel aber das Recht darauf, dass über sein Existenzrecht nicht (mehr) diskutiert würde.

Die Glaubensfrage sieht bereits von ihrem Ansatz an völlig von Gott ab. Sie konzentriert sich auf einen innermenschlichen Diskurs, bei dem Gott nur die Kulisse bilden und nie die Bühne betreten darf. Es ist gleichgültig, wie man auf die Frage antwortet: Man hat Gott schon objektiviert. Es ist gleichgültig, woran man jeweils glaubt: Indem man sich den eigenen Glauben definiert hat, ist dieser schon dogmatisch geworden.

Die Glaubensfrage erwartet dort eindeutige Antworten, wo die Wirklichkeit keine zulässt.

*

Wenn Rabbiner nicht nur in ihrer juristischen Funktion denjenigen Rechtsanweisungen erteilen, die sie erhalten wollen, sondern in ihrer seelsorgischen bzw. geistlichen Funktion auch von "Gott" reden: was wissen sie dann, was können sie eigentlich von der Beziehung wissen, die Gott zu anderen hat?

Also - sagt der Modernist - brauchen wir keine Rabbiner mehr.

Aber doch, antwortet der postmoderne Existenzialist: Denn gerade die Rabbiner dürfen diejenigen sein, die genug wissen sollen, um zu wissen, dass sie von der geistigen Wirklichkeit der anderen, von deren Begegnungen mit Gott, von Gottes Beziehungen zu ihnen im Grunde genommen nichts wissen und dies als Menschen auch nicht wirklich wissen können. Nur solche sind imstande, die Gemeinden vor irreführendem Dogmatismus zu schützen, ob dem orthodoxen, dem liberalen oder einem andersartigen.

Dort, wo einer meint, Gott sei böse/gut, Frauen sollten mit den Männern gemeinsam beten oder dies gerade meiden, an der mündlichen Lehre müssten grundsätzliche Änderungen/dürften keine solchen vorgenommen werden usw. usf.: Dort ist es die Aufgabe des Ortsrabbiners, die jeweils andere Seite der Medaille zu erklären.

Schließlich muss die Praktik von der Gemeinde bzw. von jedem einzelnen Mitglied als freiem Menschen "mit den Füßen" gebilligt werden. Eine "Formel für alle" gibt es nicht - und es ist auch gut so. Daher darf sich die Synagoge nicht exklusiv verhalten. Die Praktik darf und soll abgewechselt werden, je nach dem Wunsch und der Initiative der Gemeindemitglieder: Ein guter Rabbiner steht ihnen bei der Verwirklichung ihrer Ideen zur Verfügung.

Wenn einer eindeutige Antworten bekommen will, wird es zur Aufgabe des Rabbiners erstens zu veranschaulichen, dass es im Bereich des Geistigen keine geben kann, und zweitens dem Fragenden zur geistigen Eigenständigkeit zu verhelfen. Denn das Bedürfnis nach übermäßiger Eindeutigkeit weist - nicht nur im geistigen, sondern etwa auch im zwischenmenschlichen Bereich - auf Wackeligkeit im entsprechenden Bereich innerhalb der eigenen Persönlichkeit hin. Das schlimmste, was der Rabbiner in solch einer Situation machen kann, ist diese gefährliche Tendenz nur noch zu stärken.

Es ist die Aufgabe des Rabbiners wie des Lehrers und des Dozenten: Den Mitmenschen, die es wollen, dorthin zu helfen, wo sie keines mehr bedürfen.

Eigenständigkeit und verantwortungsvolle Souveränität beim schwierigen Umgang mit dem Göttlichen nicht nur aufzuweisen, sondern auch zu verbreiten: Das wären meine Erwartungen von einem Rabbiner im 21. Jahrhundert.

*

Jüdisch zu leben, das heißt: Den immer währenden Fragezeichen nicht zu entfliehen, weder den verlockenden Antworten des Glaubens noch der trügerischen Einfachheit des Atheismus zu verfallen.

Donnerstag, 3. Jänner 2008

Privatisierung, aber anders?

Liebe Leser,

gibt es auf Erden noch ein Land, wo an staatlichen (!) Universitäten nicht nur kleinere Einrichtungen wie Forschungszentren, Lehrstühle etc., sondern auch ganze Fakultäten plötzlich nach Personen benannt werden, die entweder zur Erhaltung der Fakultäten in deren jetzigem Zustand gespendet haben oder im besten Fall die Eltern solcher Spender gewesen sind?

Und wenn ihr mir nicht glaubt:
http://www.tau.ac.il/units-eng.html
(...ist wohl keine Neuigkeit mehr, aber mir als Produkt der Hebräischen Universität Jerusalem erst jetzt aufgefallen)

Schöne Grüße
Yoav

Dienstag, 1. Jänner 2008

Interessantes für den Feiertag

Hallo allerseits,

wenn ihr heute nichts Besonderes vorhabt, helfen euch folgende Artikel vielleicht weiter:

Eurozine bringt einen Artikel von Gerard Delanty zum Thema Vielfalt/Diversity und europäisches Selbstverständnis: "The simple appeal to Europe's diversity will not be enough since many of the problems which diversity is intended to solve are produced by the very national models that are regarded as the carriers of diversity. A step in the right direction would be an intercultural dialogue regarding the different European understandings of diversity and an exploration of ways to reconcile the divergent western, central, and eastern approaches to cultural diversity." Aus: Peripheries and borders in a post-western Europe

Das österreichische Indymedia erklärt das neue Grenzkonzept des Schengenlandes: "Die Entfernung zwischen „uns“ und den „Anderen“ findet also nicht mehr über eine Grenzlinie, kontrolliert von ZollwächterInnen, statt, deren Ort auf jedem Atlas ersichtlich ist. Die Entfernung zum Anderen, die Entfernung der Anderen ist nun großräumig und de facto überall." Aus: Erweiterte Grenzen überall

Wie sich die neue Vorstellung von scheinbar klaren Trennlinien technisch anwenden lässt, erklärt das bundesrepublikanische Indymedia: "Die Festung Europa unterhält ein umfassendes Netz moderner elektronischer Datenbanken zur Migrationskontrolle, Strafverfolgung sowie Prävention, das zu Recht als "panoptisches Gehirn" bezeichnet werden kann. [...] Doch ein Panopticon nach Foucault hat aufgrund allgegenwärtiger Überwachung auch eine soziale Konformität des Individuums als Resultat. Daher betrifft diese Entwicklung im Endeffekt alle Menschen, innerhalb oder außerhalb der EU." Aus: Das panoptische Gehirn der Festung Europa

Und wenn euch die angekündigten Maßnahmen ausreichend stören: Der Salzburger David Röthler weist auf eine Petition gegen den Überwachungsstaat hin. Allerdings scheint sie auf Österreich beschänkt zu sein.

In der neuen Literaturen-Ausgabe ("Schreiben jetzt. Wie Autoren auf dem Markt überleben") lässt sich eine interessante Diskussion über den jetzigen Stand der (deutschen) Literatur finden bzw. "[ü]ber den Roman als Allesfresser, Naturwissenschaft in der Literatur, Schreiben als Kunst des Fahrradfahrens, einen Lokführerstreik der Literaturkritik und kulturpessimistische Szenarien, die keine Drohung sein können." Aus: Die Stunde der kleinen Nager

Apropos Schreiben: Inmitten der jetzigen "Welle" in der Diskussion über Blogs etc. hat mir Stefan Niggemeiers Beitrag in der taz besonders gut gefallen (und nein, das ist kein Kompliment an mich selbst. Mit durchschnittlich 30 Besuchern pro Tag gehört man wohl noch nicht dazu): "Das große Versprechen der Demokratisierung des Publizierens ist nicht die Herrschaft der ahnungslosen Masse. Es ist die Chance, die Vorteile der professionalisierten Wissensproduktion mit der Intelligenz der Masse zu kombinieren." Aus: Die Arroganz der Papierverfechter

Denjenigen, die sich gerne was wünschen lassen, wünsche ich ein gut und leicht gelungenes 2008, allen anderen einen angenehmen Feiertag noch!