Wenn wir schon bei Buchkritik sind, widme ich mich einem anderen Werk, das mir ein Freund geliehen hat: Günter Mayer (Hrsg.), Das Judentum (die Religionen der Menschheit, Band 27). Stuttgart, Berlin, Köln: Verlag W. Kohlhammer, 1994. Kein neues Werk also, aber auch kein sehr altes.
Das Werk ist 526 Seiten stark. Reicht das für einen so anspruchsvollen Titel wie "das Judentum"? Anscheinend nicht, denn Band 26 in dieser Reihe heißt: Israelitische Religion. Naja, dass die Religion des Volkes Israel sich mehrmals weitgehend geändert hat, ist klar; sehr fraglich ist aber die begriffliche Unterscheidung zwischen dem "Judentum", das heute noch besteht, und der "israelitischen Religion", die der fernen Vergangenheit angehört. Damit wollen die Herausgeber wohl verhindert haben, dass irgendwelche Verrückten mit osteuropäischen Wurzeln auf die unwahrscheinliche Idee kommen, die Religion Israels in ihren verschiedenen Phasen als kontinuierlichen, sozusagen "authentischen" Entwicklungsgang zu begreifen. Allerdings setzt man damit nur eine alte Problematik fort, die bis in die Anfänge der deutschen Geschichtswissenschaft im 19. Jh. zurückgeht. Demgegenüber heißt der 28. Band in dieser Reihe schlicht und einfach das Urchristentum, ganz zu schweigen vom Islam, der in ganzen drei Bänden thematisiert wird, welche die wohl differenzierenden Titel tragen: Der Islam I, Der Islam II und Der Islam III.
Immerhin bleibt die Frage, was man in 526 Seiten alles aufgreifen kann. Ein Blick ins Inhaltsverzeichnis verrät einen etwas verzerrten Blick auf die jüdische Geschichte. Erstens will sich der Herausgeber fast nur mit der Neuzeit befassen: Im Kapitel "Geschichte des nachbiblischen Judentums in Grundzügen" werden der Antike 10 Seiten, dem Mittelalter ebenfalls 10 Seiten, der Neuzeit aber 20 Seiten gewidmet und dann kommt auch noch die neueste Zeit mit weiteren 11 Seiten. Im Kapitel "Die Entwicklung der Halaka" bekommt die Antike genau 2 Seiten, das Mittelalter und die frühe Neuzeit zusammen bekommen 7 Seiten, und die späte Neuzeit bis heute bekommt in mehreren Kapiteln insgesamt 28 Seiten. Andere Beispiele gibt es auch, aber ihr versteht schon, worum es dem Herausgeber geht.
Dieses Phänomen ist notabene nicht darauf zurückzuführen, dass bis zur späten Neuzeit nicht so viel geschehen wäre, sondern vielmehr darauf, dass alles, was sich bis dahin ereignet hat, für den Herausgeber nicht so wichtig erscheint. Dies rührt wiederum wohl daher, dass es sich dabei um Entwicklungen innerhalb des traditionellen Judentums handelt, womit wir auf die zweite Verzerrung kommen: Der Herausgeber will sich fast nur mit den nichtorthodoxen Strömungen befassen, was nun die erste, chronologische Verzerrung zu erklären vermag.
Das wird bestens am Kapitel "Jüdisches Denken im 20. Jahrhundert" deutlich, das 184 (!) Seiten umfasst (zum Vergleich: Das Kapitel "die Bibel und ihre Geschichte" umfasst 35 Seiten, das Kapitel "Philosophie und Mystik [bis zum 20. Jahrhundert]" umfasst 64 Seiten). Dieses riesengroße Kapitel teilt sich in zehn Unterkapitel, die jeweils Leben und Werk einer Persönlichkeit beschreiben: Hermann Cohen, Franz Rosenzweig, Martin Buber, Leo Baeck, Mordechai Menachem Kaplan, Richard L. Rubenstein, Emil L. Fackenheim und Abraham Joshua Heschel. Fehlt hier etwas? Ach, ja: Neben all diesen Denkern kommt auch "das orthodoxe Judentum" zu Wort und zwar im Unterkapitel "Das orthodoxe Judentum: Rab Kook und Rabbi Soloveitschik", denen zusammen 20 Seiten gewidmet sind... Das zehnte Kapitel heißt übrigens "Die weitere Entwicklung".
Womit lässt sich diese zweite, thematische Verzerrung erklären? Sie hat wohl irgend etwas mit der Sprache zu tun. Nicht wenigen Wissenschaftlern fällt der Umgang mit der hebräischen Sprache schwer, weshalb sie gerne hebräische Quellen übersehen. Und nun ist es mal so, dass "orthodoxe" Schriften, die an die Gelehrten gerichtet sind, eben auf Hebräisch geschrieben werden.
Ich vermute aber, dass dem verzerrten Blick noch etwas zugrunde liegt, nämlich Ideologie. Um das zu beweisen, muss man nicht nur die Form, sondern auch den Inhalt heranziehen. Allerdings verbiete ich mir Texte (in diesem Fall: Kapitel) zu kritisieren, die ich nicht von A bis Z gelesen habe, weshalb ich mich hierbei auf ein Kapitel beschränken muss: "Die Halaka der Konservativen", geschrieben von Phillip Sigal s. A. und Günter Mayer. Dieses Thema passt zu unserer kleinen Untersuchung eigentlich ganz gut, da es im konservativen Judentum von den Anfängen an eine Spannung zwischen zwei Neingungen gibt: Einerseits zur Reform, andererseits zur Tradition. Werden sich die Verfasser objektiv verhalten können? Fangen wir an (meine Hervorhebungen):
S. 113: "[Sabato] Morais gehörte zu denen, die in Fragen der Liturgie zu echten halakischen Konzessionen bereit waren [...]" - In einem wissenschaftlichen Text soll es weder echte noch unechte Konzessionen geben; wenn der Wissenschaftler die erforderliche Distanz bewährt, vermag er die Echtheit einer Konzession gar nicht mehr zu beurteilen. Eine derartige Beurteilung gehört sich dann auch nicht mehr. Die Verfasser wollen wohl sagen, dass die besagten Konzessionen größer waren als frühere. Nun wissen wir, dass diese Konzessionen zudem groß genug waren, damit die Verfasser sie ganz persönlich für "echt" halten. Aber in einem wissenschaftlichen Werk ist dieser persönliche Geschmack vollkommen falsch am Platz.
S. 113: "[...] auch wenn die führenden Vertreter der Konservativen anerkannten, daß gewisse Rituale obsolet geworden waren," - wo ist der notwendige Konjunktiv? - weiter: "hatten manche unter ihnen immer noch einen orthodoxen Hang zu einem Schulhan 'aruk, wenn auch einem modernen." - Warum nicht "Neigung"? Oder "Vorliebe"? Ach so, weil die Verfasser den Schulchan Aruch negativ bewerten...
S. 115: Die Verfasser zitieren Boaz Cohen und schreiben dann: "Gerade durch diese Sprache [...] unterscheiden sich selbst traditionalistische oder fundamentalistischer eingestellte Fraktionen der eigentlich zu Unrecht so genannten 'konservativen' Bewegung von der Orthodoxie." Wenn es innerhalb des konservativen Judentums Fraktionen gibt, die den Verfassern zumindest gewissermaßen fundamentlistisch erscheinen, möchte ich gar nicht wissen, was für Vorurteile die Verfassen gegen die orthodoxen Strömungen haben...
S. 116-117: Die Verfasser besprechen ein konservatives Rechtswerk: "Zum großen Teil wiederholt es die traditionelle Halaka der Orthodoxie, ohne zu berücksichtigen, daß viele dieser Normen für die religiöse Observanz konservativer Juden keine Rolle spielen" - Na und? Ein Rechtswerk soll vorschreiben, wie Menschen bzw. Juden leben sollen. Es hat ein erstrebenswertes Ideal vorzulegen und braucht das Gegenwärtige nicht zu verkoschern. Es sei denn, die Verfasser finden das jeweilige Ideal - ihrem persönlichen Geschmack nach - nicht erstrebenswert: "Aufs ganze gesehen ist diese Kompilation der Ausdruck der persönlichen fundamentalistischen Meinung ihres Autors." Naja, jeder Text ist der Ausdruck der persönlichen Meinung seines Autors - mit einer Ausnahme: Gerade wissenschaftliche Texte sollen es tunlichst vermeiden. Das ist zugegebenermaßen nicht immer leicht, aber ein guter Wissenschafter muss zumindest versuchen, sachlich zu bleiben.
S. 117-118: "Obwohl einige konservative Rabbiner immer noch glauben, daß die Frauen auch im rahmen der traditionellen Praxis religiöse Erfüllung finden könnten, ordiniert das Jewish Theological Seminary jetzt Frauen zu Rabbinern [...]" - Falscher Konjunktiv. Denn nicht nur "einige konservative Rabbiner", sondern vor allem auch viele Jüdinnen haben eine kritische, ja immer kritischere Einstellung zur (angeblichen oder tatsächlichen) Vermännlichung der jüdischen Frau in linksextremen bis linken Kreisen während der letzten Jahrzehnte. Aber vielleicht ist das Buch ja zu früh erschienen, um diese Kritik in Betracht zu ziehen.
S. 118: "Wie die Entscheidung, den konservativen Synagogen den Verzicht auf den rabbinischen zweiten Diasporafeiertag zu erlauben, so löste auch die Entscheidung, Frauen zum Minjan zuzulassen [gemeint ist: mitzuzählen, denn die Teilnahme am Gottesdienst war den Frauen ja nie verboten], in den Reihen der Orthodoxen heftige Kritik aus. Bündig kommt sie etwa bei J. David Bleich zum Ausdruck [...] Dieser Angriff [seitens Bleichs] verdient nur insofern Beachtung, als er ein Beispiel des orthodoxen Alleinvertretungsanspruchs in der Halaka ist." (auf S. 119 wird auf "den diesbezüglichen Anspruch der Orthodoxie" nochmals Bezug genommen.) Hier muss ich mich schon fragen, ob die Verfasser sich wirklich so gut mit der Materie auskennen wie sie es tun sollen. Wie kann man in einem wissenschaftlichen Werk überhaupt jemand, den man zitiert, einfach nur als "orthodox" beschreiben? Genauso gut hätten ihn die Verfassen auch als "einen Juden mit europäischen Wurzeln" bezeichnen können, denn genauso wenig kann man daraus schließen. Was ist überhaupt "die Orthodoxie"? Es gibt doch so viele Strömungen und Auffassungen, Streitpunkte und lebensstilistische Unterschiede. Was uns zur eigentlichen Frage bringt: Wie sollte es denn einen "orthodoxen Alleinvertretungsanspruch in der Halaka" geben können, wenn es nicht einmal eine "orthodoxe Halacha" gibt? Das Einzige, was allen "orthodoxen" gemeinsam ist, ist die eher theoretische Verpflichtung zum Schulchan Aruch (und bei manchen jemenitischen Juden: zum Mischne Tora). Sie ist deswegen theoretisch, weil es heute keine Gemeinde gibt, deren Bräuche und Riten wirklich dem Kodex entsprechen, den Karo vor fast fünf Jahrhunderten zusammengestellt hat. Diese Unterstellung seitens der Verfasser hört sich fast so an wie die alten Verschwörungstheorien gegen "die Juden", die trotz aller inneren Unterschiede ein gemeinsames - und wohl nur zufälligerweise ebenfalls negatives - Ziel hätten erstreben sollen.
So, mit diesem Kapitelchen bin ich fertig, und das waren ja nur 8 Seiten. Was kann man also sagen? Mit ihrer wiederholt unsachgemäßen Haltung bzw. Ausdrücksweise kommen die Verfasser leider kaum durch. Mir kommt es folglich so vor, als verträten nicht die in diesem Kapitel Kritisierten, sondern vielmehr die Kritiker eine fundamentalistische, weil linksextreme Haltung. Andere Kapitel möchte ich nicht kommentieren, weil ich sie, wie gesagt, aus Zeitgründen nicht durchlesen konnte. Aber gerade an diesem Kapitel war auch der Herausgeber, Günter Mayer, als Mitverfasser beteiligt. Und für das oben besprochene Inhaltsverzeichnis, d.h. für die Struktur dieses Werkes, war der Herausgeber natürlich auch verantwortlich. Ob diese Kongruenz zufällig ist?
Montag, 20. August 2007
Enttäuschende Wissenschaft
Am 20.8.07
Stichwörter: Buch, Kritik, Wissenschaft
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