Sonntag, 12. August 2007

Die verlorene Norm und die ersehnte Brüderlichkeit: a langes Wörtl far Mozej-Schabbes-Kojdesch Par. "Re'e"

In der Parscha der vorhin ausgegangenen Woche heißt es: "Lo titgodedu" (5. Mose Kap. 14:1), d.h. "ihr sollt nicht ..." - nicht was? Aus Raschis Kommentar zu diesem Wort, das auch sonstwo in der Bibel vorkommt (vgl. 1. Könige 18:28; Jeremia 16:6, 41:5, 47:5) lernen wir, dass es sich hier um das Verbot handelt, den eigenen Körper so wund zu ritzen, wie es die Amoriter machten, um auf diese Weise ihre Trauer über den Tod eines Verwandten o. Ä. zum Ausdruck zu bringen. Aus der Tosefta (Makot 3:9) lässt sich folgern, dass dieses Ritzen in der amoritischen Religion mit einem besonderen Gerät ausgeführt wurde, wahrscheinlich bis das Fleisch blutete: "Wer sich bei Todesfällen mit der Hand wund ritzt, ist [von Strafe] befreit [weil hier anscheinend kein Götzendienst zu vermuten ist]; wer es aber mit einem Gerät tut, der soll bestraft werden; wer es als Götzendienst - egal, ob mit der Hand oder mit einem Gerät - tut, der soll bestraft werden". Tur-Sinai übersetzt es folgendermaßen (ich führe den ganzen Vers an; kursiv steht das besagte Verbot): "Kinder seid ihr des Ewigen, eures Gottes. Ihr sollt euch keine Einschnitte machen und keinen Kahlschnitt zwischen euren Augen anbringen um eines Toten willen." Die ursprüngliche Bedeutung dieses Verbots ist also, etwas zu vermeiden, was unter den seinerzeitigen, andersgläubigen Bewohnern des Landes üblich war. Das Verbot kommt also in einem klaren Zusammenhang vor, denn es gibt zahlreiche andere Verbote mit demselben Sinn, insbesondere in diesem Wochenabschnitt.

Der Talmud (Jewamot 13:2) bringt eine andere Interpretation vor: "Ihr sollt euch nicht in (eigenständige) Gruppen aufteilen". Diese Interpretation lehnt sich an ein sehr ähnliches Verb an, das zuweilen gleich geschrieben wird und "sich versammeln", "sich zu einer Gruppe formen" bedeutet (vgl. Jeremia 5:7); manchmal ist es sogar nicht klar, welche Bedeutung gemeint ist (vgl. Micha 4:14). Auch wenn sie inhaltlich eher zusammenhangslos erscheint, ist diese Interpretation zumindest in sprachlicher Hinsicht akzeptabel. Immerhin spielt die Einheit eine große Rolle, weil die Identität Israels nicht nur auf dem gemeinsamen Recht, sondern vor allem auch auf der gemeinsamen Herkunft basiert. Zudem scheint die erste Bedeutung seit Jahrtausenden keine richtige Herausforderung mehr zu bilden: Der amoritische Brauch ist so sehr in Vergessenheit geraten, dass Raschi es ja für notwendig erachtet hat, dieses Verbot zu erklären. Und so bleiben wir praktisch mit der späteren Interpretation: uns nicht in Gruppen aufzuteilen.

Und es ist tatsächlich diese Verurteilung der Aufsplitterung, die uns seit eh und je Schwierigkeiten bereitet. Früher waren es etwa das geteilte Königreich zur Zeit des ersten Tempels, die rivalisierenden Sekten zur Zeit des Zweiten Tempels, der Kampf gegen die Karäer usw. usf. Heutzutage gibt es Chassidismus im Allgemeinen und Chabad-Lubawitsch mit ihren Eigentümlichkeiten im Besonderen; aschkenasische Litwaks; sephardische Ultraorthodoxe; Nationalreligiöse mit sehr verschiedenen Auffassungen; der ebenso vage wie weit verbreitete Traditionalismus nach israelischer Art; die (langsam verschwindende?) "moderne Orthodoxie" nach US-amerikanischer Art; die noch auf der Suche befindlichen "Conservadoxen"; das neue konservative Judentum der letzten 25 Jahren (das sich auch weiterhin aufzusplittern scheint); das "linksextreme" Reformjudentum; und daneben auch andere Strömungen, die nicht unbedingt an Gott glauben...

Doch im Grunde genommen, wenn auch pauschalisierend, lassen sich die gläubigen Strömungen in zwei "Parteien" zusammenfassen, die es als solche freilich nicht gibt: Einerseits das "orthodoxe Judentum", d.h. die Strömungen, deren Ideal (und oft auch die Praxis) ist es, die Anweisungen im Schulchan Aruch, dem reichlich kommentierten, weil grundlegenden Rechtswerk des Judentums in der Neuzeit, zu befolgen (nebenbei bemerkt: für manche jemenitischen Juden ist es der Mischne Thorah des Maimonides); andererseits das "liberale Judentum", d.h. jene Strömungen, die aus unterschiedlichen Gründen sehr verschiedene Änderungen an diesem Grundwerk vorgenommen haben. Wie immer, wenn es sich um weltanschauliche Fragen handelt, scheint auch hier keine Versöhnung möglich zu sein. Konservative Juden verstehen sich mit Reformjuden weit besser als mit Litwaks, die sich wiederum - trotz aller "innerparteilichen" Kontroversen - weit besser mit Chassidim verstehen als mit Reformjuden.

Den Stein des weltanschaulichen Anstoßes bildet hier die Frage: Wie gilt es mit dem von allen ererbten jüdischen Recht umzugehen? "Die Liberalen" sagen, dass das jüdische Recht in unserer Volksgeschichte immer wieder aktualisiert, verändert oder durchaus reformiert wurde; und historisch betrachtet haben sie Recht: Man denke etwa an die "Neugründung" des Judentums durch Esra & Co. oder an die große Reform durch Rabban Gamliel von Jawne & Co., die das Fortbestehen Israels nach der Zerstörung des zweiten Tempels ermöglichte. Also, sagen "die Liberalen", warum soll man mit den Reformen nicht weitermachen, um die ererbte Tradition an die veränderten Umstände, diesmal also an die Moderne anzupassen? Jedoch haben "die Orthodoxen", die als "Kontrarevolutionäre" ebenfalls ein Produkt der Moderne sind, wohl begründete Ängste vor massiven Änderungen am jüdischen Recht. In der jüngeren Geschichte sind derartige Änderungen allzu oft in die Assimilation bzw. Akkulturation gemündet (3. Mose 18:3: "Ihre Bräuche sollt ihr nicht befolgen"). Außerdem wurden mit den beiden großen Reformen der Antike die Grundlagen schon weitgehend festgelegt, was nicht viel Platz für weitere Änderungen übrig lässt. Aber ausschlaggebend ist wohl die bloße Tatsache, dass die Moderne - im Gegensatz zu den Umständen bei den früheren Reformen - kein Zustand ist, der eine Reform erzwingt; ganz im Gegenteil: Dank moderner Technik und Technologie ist das Leben nach den Anweisungen des Schulchan Aruch weit leichter geworden.

Also? Hoffnungsloser Zustand des ewigen oder zumindest noch lange andauernden Kampfes? Nu, auch ein langes Wort soll sein a Wort, d.h. ein Happy Ending haben. Und so kommen wir auf unsere Parscha zurück, denn noch vor dem "lo titgodedu" heißt es (5. Mose 13:1): "Alles das, was ich euch gebiete, sollt ihr zu tun bedacht sein; du sollst nichts hinzufügen und nichts davon mindern." Das erinnert uns wohl an etwas, denn erst vor zwei Wochen haben wir gelesen (5. Mose 4:2): "Ihr sollt nichts hinzufügen zu dem Wort, das ich euch gebiete, und davon nichts mindern, zu wahren die Gebote des Ewigen, eures Gottes, wie ich euch gebiete." Dieses doppelte Verbot heißt im jüdischen Kanon "bal tosif" - aber wozu die Wiederholung? Der Wilnaer Gaon meint, die Wiederholung weist darauf hin, dass die beiden herkömmlichen Interpretationen zugleich richtig sind, nämlich: 1. es ist verboten, ein neues Ge- bzw. Verbot einzuführen oder ein bestehendes zu tilgen (d.h. das "Was" zu ändern); 2. es ist verboten, die vorgeschriebene Durchführung eines Gebotes zu erweitern oder zu verringern (d.h. das "Wie" zu ändern).

Nun ist aber so, dass man sowohl bei der einen als auch bei der anderen Partei weitgehende Abweichungen vom ursprünglichen Sinn des biblischen Textes feststellen kann. Ich meine jetzt nicht die Sachen, wo die mündliche Überlieferung notwendigerweise den schriftlichen Text ergänzt, z.B. bei der Praxis der Tfillin, die im schriftlichen Text nicht erläutert wird; sondern die zahlreichen "Sicherheitszonen" um das biblische Recht herum, die die alten Weisen verfügt haben, z.B. die Gleichsetzung von Geflügelfleisch mit Viehfleisch. Man kann also sagen, dass "die Liberalen" links von der rechtlichen Norm, "die Orthodoxen" hingegen rechts von der Norm stehen (aber nicht unbedingt in denselben Fragen).

Meiner Meinung nach sollte diese Norm, wenn möglich, wiederhergestellt werden. Wer "extra leisten" möchte, dürfte es auch weiterhin tun, jedoch gölte es dann eben als "Extraleistung", als das halachische Ideal und nicht mehr als die zu erwartende Norm. Der Begriff der Extraleistung - auf Hebräisch: "Chumra" (bei Verboten) oder "Hidur Mizwa" (bei Geboten) - ist im jüdischen Recht schon tief verankert und wird auch verschiedentlich angewandt.

Für die "liberale Partei" würde es heißen, die Norm zu erhöhen und auch dann hoch zu halten, wenn die Gemeinde sich nicht allzu gut daran hält. So war es z. B. bei den einstigen Konservativen in den USA, die sich nunmehr lieber als "conservadox" bezeichnen, nachdem das konservative Judentum in den letzten 25 Jahren extremer "Reformisierung" ausgesetzt gewesen ist; so war es auch in vielen modern-orthodoxen Synagogen (inzwischen hat aber auch diese Strömung wesentliche Änderungen durchgemacht und zwar in Richtung Ultraorthodoxie); und so ist es seit langem bei den orthodox gesinnten, aber nicht unbedingt orthodox lebenden Traditionellen in Israel (auf Hebräisch: "Masortijim", die aber nichts mit der konservativen "Masorti"-Bewegung zu tun haben). Meines Erachtens gibt es tatsächlich viele Juden, die aus ihrem (jeweils unterschiedlichen) Lebensstil keine neue, verbindliche Norm machen wollen und daher einer Gemeinde angehören wollen, deren "amtliche Norm" höher liegt als ihr (d.h. der Ersteren) eigener Lebensstil.

Fassen wir also den ganzen Gedankengang zusammen: Wie könnte man heutzutage das "lo titgodedu" befolgen? Indem man sich ans vorangehende und ebenso wichtige "bal tosif" hielte und auf diese Weise einen Kompromiss zwischen den beiden "Parteien" fände. Ja, das ist nichts mehr als ein Traum - dessen bin ich mir schon bewusst. Aber wie hat es jener assimilierte Jid formuliert? Wenn ihr es wollt...

Und in diesem Sinne: a gutn Chojdesch!

P.S. Apropos Herzl fällt mir was ein. In einer der wichtigsten Bibelstellen heißt es (4. Mose 15:39): "Und es soll euch zu Merkquasten sein, daß ihr es anseht und aller Gebote des Ewigen gedenkt und sie ausübt und nicht nachgeht eurem Herzen und euren Augen, denen ihr nachbuhlt" - Wos hejsst "ajer Harz"? Dos is Herzl! Un wos hejsst "ajere Äugn"? Dos is Kuk! ("Kukn" auf Jiddisch bedeutet auf Deutsch "gucken"... Ein uralter Witz eben, aus ultraorthodoxen Kreisen)

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