Endlich habe ich etwas Zeit gefunden, um mein Versprechen vom letzten Beitrag einzuhalten, nämlich zu erklären, was man sich zu den verschiedenen Zeiten im Laufe des Monats Tischrej wünscht. Der Haken daran ist, dass die Wunschausdrücke teilweise sehr eng mit der theologischen Interpretation des jeweiligen Zeitpunktes zusammenhängen. Das heißt also, dass der korrekte Wunsch sich "plötzlich" ändern kann. Daher wird im Folgenden versucht, die Sache chronologisch zu ordnen.
Gregorianische Daten kann ich keine nennen, da der gregorianische Kalender sich stets "bewegt". Im Netz gibt es aber glücklicherweise einen Doppelkalender: www.kaluach.net (einfache, kostenlose Anmeldung ist erforderlich)
1. Einleitung: Was geschieht eigentlich am Neujahr?
Der religiöse Inhalt des Neujahrsfestes besteht vornehmlich im Neujahrsgericht, bei dem das Geschick aller Menschen fürs eben angefangene Jahr festgelegt wird. Davon erzählt der babylonische Talmud (Rosch Haschone 16:2) im Namen von Rabbi Jochanan:
Drei Bücher werden am Neujahr geöffnet: Eines für die durchaus Bösen, eines für die vollkommen Gerechten und eines für die Mittelmäßigen. Vollkommen Gerechte werden gleich fürs Leben [d.h. ins "Buch der Lebenden"] eingeschrieben und besiegelt. Durchaus Böse werden gleich für den Tod [d.h. ins "Buch der Toten"] eingeschrieben und besiegelt. Mittelmäßige bleiben vor Gericht vom Neujahr bis zum Versöhnungstage [am 10. Tishrej] stehen: Sind sie freigesprochen worden, so werden sie fürs Leben eingeschrieben; sind sie nicht freigesprochen worden, so werden sie für den Tod eingeschrieben.
Ferner kommen im "Unser Vater, unser König"-Gebet, das vom Neujahr bis zum Versöhnungstage in der Synagoge aufgesagt wird, das "Buch des guten Lebens", das "Buch der Erlösung und Rettung", das "Buch von Unterhalt und Versorgung", das "Buch der Verdienste" sowie das "Buch von Vergebung und Verzeihung" vor. In einem festlichen Zusatz zum normalen Achtzehn- bzw. Standgebet wird zu dieser Zeit auch das "Buch von Leben, Segen und Frieden, gutem Unterhalt und guten Urteilen, Rettungen und Tröstungen" erwähnt.
2. Ab wann wird gewünscht?
Der sechste Monat, d.h. der Monat vor dem Neujahr, heißt "Elul". In diesem Monat wird wochentags (d.h. täglich außer samstags) nach Schachris, dem Morgengebet, das Schofar geblasen. Auf diese Weise wird an das baldige Neujahrsgericht gemahnt. Ab dem ersten Elul steht also das Neujahr "amtlich" bevor. Wenn man im Elul einem Menschen begegnet, den man bis zum Neujahr wohl nicht mehr sehen wird, kann und soll man ein gutes Jahr etc. wünschen - wie im Folgenden erklärt.
Nebenbei bemerkt: Auf Jiddisch dient "gut Jor" auch zu sonstigen Zeiten als Grussformel, und zwar im Sinne von "hallo"+"lange nicht gesehen".
3. Vom 1. Elul bis zum Mittag des ersten Neujahrstages
Obwohl im 3. Mose 23:24 nur von einem Tag die Rede ist ("im siebten Monat, am ersten Tag des Monats"), dauert das jüdische Neujahrfest zwei Tage, d.h. bis zum 2. Tischrej. Dies gilt selbst im Lande Israels, wo sonst kein Fest verdoppelt wird. Auf die Entstehungsgeschichte dieser Ausnahme möchte ich jetzt nicht eingehen, aber man soll sich zumindest merken, dass von diesen beiden Tagen nur der erste das eigentliche Neujahr ist.
Zu dieser Zeit wünscht man sich "Schana towa", d.h. ein gutes Jahr, sowie "Ktiwa towa waChatima towa", d.h. gute Einschreibung und gute Besiegelung. Beim Schreiben hebt sich der Sprachgebrauch: "Möget ihr für ein gutes Jahr eingeschrieben und besiegelt werden". Und früher schrieb man: "Möget ihr ins Buch der Lebenden eingeschrieben und besiegelt werden".
Diese Wünsche beziehen sich auf das vorerwähnte Neujahrsgericht. Sie gelten als richtig bis zum Mittag des 1. Tischrej, an dem alle Menschen bereits in das für sie geeignete Buch eingeschrieben worden sind.
4. Vom Mittag des erten Neujahrstages bis zum Vorabend des Versöhnungstages
Vollkommen Gerechte und durchaus Böse sind am ersten Neujahrstage für ihr jeweiliges Geschick im neuen Jahr gleich besiegelt worden. Nicht beschlossen ist noch jenes der Mittelmäßigen - und das sind ja die meisten. Diese können bis zum Versöhnungstage ihr Urteil noch ändern, indem sie sich von ihren Missetaten bekehren. Daher wünscht man zu dieser Zeit noch "Chatima towa", also gute Besiegelung (aber keine "Ktiwa towa" bzw. gute Einschreibung mehr).
5. Am Vorabend des und am Versöhnungstage selbst
Am 10. Tischrej, dem Versöhnungstag, und zwar bei dessen Abenddämmerung, wird auch das Schicksal aller Mittelmäßigen endgültig beschlossen. Zu dieser Zeit wünscht man "Gmar Chatima towa", d.h. gute Endbesiegelung. Zuletzt habe ich bemerkt, dass viele bereits gleich nach dem Neujahrsfest damit anfangen, "Gmar Chatima towa" zu wünschen; das ist aber falsch (wie in Punkt 4 erklärt).
Nebenbei bemerkt: In dieser Formel gibt es einen kleinen grammatischen Fehler, denn "Gmar" ist maskulin und daher sollte es lauten "Gmar Chatima tow" (und nicht "towa"). Aber das macht nichts aus, da wir hier mit einer festen Redewendung zu tun haben.
Nachtrag [23.09.2007]: In israelischen Medien verbreitet sich seit geraumer Zeit der Wunsch "Zom kal" bzw. "leichtes Fasten". Dieser scheint in Widerspruch zum Gebot zu stehen, sich an diesem Tage [durch Enthaltung] zu quälen (vgl. 3. Mose 16:29, 16:31, 23:27, 23:29, 23:32; 4. Mose 29:7). Manche Denker haben aber gesagt, dass mit dem "Quälen" ausschließlich die Enthaltung gemeint ist; und wem das Fasten gut und leicht ergangen ist, der soll sich freuen, weil es demnach ein gutes Vorzeichen sein darf. Ohnehin scheint es mir besser und angebrachter, ein wirksames, verbesserndes Fasten zu wünschen. [Nachtragsende]
6. Vom 11. Tischrej bis zum letzten Sukkoth-Tag
Etwas umstritten ist die aschkenasische Tradition, nach der das Geschick erst an Hoschana Raba, dem letzten Laubhüttenfesttag bzw. den 21. Tischrej, wirklich endgültig besiegelt wird. Diese Auffassung wird von den Opfern abgeleitet, die am 22. Tischrej darzubringen sind, aber darauf wollen wir jetzt nicht eingehen.
Zu dieser Zeit und insbesondere an Hoschana Raba selbst wünscht mancher "Pikta tawa" (auf Aramäisch) oder "gut Quittl" (auf Jiddisch), d.h. einen guten Zettel. Gemeint ist der persönliche Zettel von jedem und jeder, auf dem das heurige Urteil steht und den Gott an diesem Tage seinen Gesandten gibt, damit sie es denjenigen im göttlichen Verwaltungsapparat weitergeben, die das Urteil umzusetzen haben. Nach jüdischer Mystik könne man bis zu diesem Tage und sogar an diesem Tage selbst durch Reue und Umkehr das Urteil auf seinem Zettel noch versüßen. Auch der Brauch, sich in der Nacht von Hoschana Raba mit der Thorah zu befassen, haben jüdische Mystiker mit dieser Quittl-Tradition in Verbindung gebracht (er geht aber wohl darauf zurück, dass diejenigen, welche die 5. Bücher Mose noch nicht durchgelesen haben, dies noch vor Simchat Thorah nachholen wollen). Weil die Quittl-Tradition sehr eng mit jüdischer Mystik zusammenhängt, erfreut sie sich in chassidischen Kreisen größerer Verbreitung als anderwärts.
So, damit ist die Sache hoffentlich etwas verständlicher geworden...
Chatima towa,
Gute Besiegelung!
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