Mittwoch, 28. Februar 2007

Von Judentum und Jiddischkeit

Liebe Leser,

machen wir es diesmal etwas interaktiver: Was ist für euch wichtiger bzw. soll eurer jeweiligen Meinung nach für Juden bzw. Jidn wichtiger sein - das Gebet oder das Essen?

Und vergesst nicht, eure Ansicht (nach Möglichkeit) jüdisch zu begründen!

Seid gesund und umso fröhlicher,
Euer Yoav


Nachtrag (08.03.2007):

Mit durchschnittlich 45 Besuchern pro Tag habe ich mehr als zwei Teilnehmer(innen) erwartet, was ich allerdings nicht hätte erwarten sollen - aber das ist ein anderes Thema. Jedenfalls bedanke ich mich bei Schoschana und Miriam für die interessante Diskussion!

Die "Lösung" lautet: Das Essen soll m. E. für wichtiger gehalten werden als das Gebet, weil das Essen auf ein Gebot in der Thora zurückgeführt werden kann, während dieselbe keine ausdrückliche Gebetspflicht enthält.

Die Erklärung: Allgemein gesagt, wird im jüdischen Recht zwischen zwei Gebots- bzw. Pflichtarten unterschieden: einerseits "mide'oreita" - von der Thora (auf Aramäisch: Oreita) -, andererseits "mid[e]'rabanan" - von den Rabbinern. Ein gutes Beispiel hierfür sind die Feste: Während bspw. Sukkot und Pessach als richtige Feste betrachtet werden, weil sie mide'oreita, also von der Thora sind, werden Purim und Channuka als "zweitklassige" Feste angesehen, an denen lockerere, also weniger strenge Halachot (Gesetze) gelten. In rechtlichen Schriften spricht man auch von "Takanot" (Ver-, Anordnungen; Verfügungen) als Bezeichnung für die Gesetze der späteren Rabbiner, um den Begriff "Mizvot" (ungefähr: Pflichten) den Ge- und Verboten der Thora vorzubehalten.

Diese Hierarchisierung können wir nun auch auf unsere Fragestellung anwenden. In Dwarim (5. Mose), Kapitel 8, Vers 10 steht geschrieben: "ואכלת ושבעת וברכת את־ד׳ אלקיך על־הארץ הטבה אשר נתן־לך". In der Regel wird es folgendermaßen verstanden und übersetzt: "Wenn du isst und satt wirst / nachdem du gegessen hast und satt geworden bist, sollst du Gott für das gute Land preisen/loben, das er dir gegeben hat." Aber sprachlich betrachtet sind hier die Verben "essen" sowie "satt werden" genau so konjugiert wie das Verb "preisen" und zwar in einer Form (2. Person Sg. männl. in biblischer Futur), die in der Thora immer den Imperativ bedeutet. Jedoch wird dieses "vergessene" Gebot - eigentlich zwei: zu essen und satt zu werden - nicht unter zu den 613 Grundge- und -verboten gezählt; wohl deswegen, weil man es als eine Selbstverständlichkeit betrachtete und daher als einen Konditionalsatz verstand. Jedoch könnte man dasselbe auch für Dwarim 6:5 behaupten: "ואהבת את ד׳ אלקיך בכל־לבבך ובכל־נפשך ובכל־מאדך" - "Und du sollst Gott lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deiner ganzen Kraft" (natürlich ebenfalls in der vorerwähnten Imperativform); so selbstverständlich es klingen mag, gilt es jedoch als eines der allerwichtigsten Gebote. Jedenfalls ist klar, dass es weder selbstverständlich ist noch jemals war, zu essen und satt zu werden. Demgegenüber steht in der Tora sche'bichtaw - der schriftlichen Thora - nicht geschrieben, dass Israel beten soll; dieses Verständnis wurde aus einem anderen Gebot interpretiert: Gott zu dienen (Dwarim 10:20). Darüber hinaus ist das Pflichtgebet, das wir heute in dem Siddur - Gebetsbuch - haben, im Grunde genommen erst durch die späteren Rabbiner als Verpflichtung ganz Israels verfügt, und zwar erst nach der Zerstörung des zweiten Tempels, als Ersatz der nunmehr unmöglich gewordenen Opferdarbringung, zu der uns die Thora ja ausführlich verpflichtet. Selbst den "Schma", das berühmteste Gebetsstück, mussten einst nur die Priester im Tempel aufsagen. Das sind, notabene, noch keine religionswissenschaftlichen, sondern schlichte Talmudkenntnisse.

Und zum (wohl einstweiligen) Schluss: Essen ist Jiddischkeit und Jiddischkeit ist der wichtigste Teil, ja die Grundlage des wahren Judentums (ein Wortspiel, das auf Jiddisch - mit gutem Grunde! - nicht geht). Dieses Land - Deutschland - braucht zuerst Jiddischkeit, aus der in Zukunft auch die höhere Schicht - die des rechtlichen Judentums - mit Gottes Hilfe noch entstehen wird.

Montag, 26. Februar 2007

Zwischen Juden und Israelis

In den letzten Jahren lässt sich immer häufiger hören, dass eine der Ursachen gegenwärtiger Manifestationen von Antisemitismus in Europa die fehlende Unterscheidung zwischen Juden und Israelis wäre. Diese Behauptung habe ich etwa bei der Diskussion im taz-Café zur Lina-Morgenstern-Schule etc. von einem Berliner Jugendstadtrat gehört, der sich auf Antisemitismus unter muslimischen Jugendlichen bezogen hat. Solch eine Denkweise finde ich besonders schlimm, weil sie suggeriert, dass es irgendwie doch akzeptabler wäre, wenn in Berlin (jüdische) Israelis anstatt (deutscher) Juden verfolgt würden.

Jedoch lässt sich das Verlangen nach dieser Unterscheidung auch unter Juden finden: Im Sommer 2005, bei einem Besuch in Stuttgart, habe ich einen Vortrag von Meinhard Tenné gehört, der sich darüber beschwert hat, dass die Deutschen zwischen Juden und Israelis noch immer nicht unterscheiden können (diese Aussage kann man, wenn ich mich nicht irre, auch in der Ausgabe des "Parlaments" vom 28.07.2003 nachlesen). Die Beschwerde beim Vortrag bezog sich darauf, dass die Deutschen bei der Jüdischen Gemeinde in Stuttgart anrufen, um sich nach den Voraussetzungen für die Einreise nach Israel zu erkundigen. Auch mit dieser Aussage kann ich mich nicht abfinden: Wenn sich die Juden in Deutschland vom zionistischen Judenstaat abgrenzen wollen, warum lernen dann die Kinder in der jüdischen Volkshochschule in Berlin Neuhebräisch, aber kein talmudisches Aramäisch? Warum will der Berliner Rabbiner Ehrenberg, dass seine Gemeinde nach dem Schlussgebet an Jom Kippur die zionistische Nationalhymne singt? Warum kommen so viele Vorbeter aus Israel? Warum schicken sowohl die Heidelberger Hochschule als auch das Berliner Abraham-Geiger(!)-Kolleg ihre angehenden Rabbiner zur Schulung nach Jerusalem (was übrigens sogar das amerikanische Hebrew Union College macht und zwar zum Ärger vieler seiner Studierenden)? Und das sind ja nur wenige Beispiele.

Ob sich das deutsche Judentum überhaupt von Israel abgrenzen könnte, ist eine gute Frage; meiner Meinung nach eher nicht, weil es nach den heutigen Verhältnissen eine Kolonie des israelischen, daneben auch des US-amerikanischen Judentums ist - und so wird es in absehbarer Zukunft auch bleiben (mehr dazu hier). Klar ist jedoch, dass es sich nicht abgrenzen will und gar nicht abzugrenzen versucht. Bislang habe ich hier übrigens nur recht wenige Menschen kennen gelernt, die sich zum Judentum bekennen, aber keine Verwandten in Israel haben, und schon gar keine Juden, die nicht nach Israel reisen wollen. Dass sich nicht alle Juden mit Israel identifizieren, spielt im menschlichen Kopf, der seit undenklichen Zeiten verallgemeinert und es auch weiterhin tun muss, eine genauso kleine Rolle wie die Tatsache, dass nicht alle Israelis Juden sind. Mag es auch ungerecht erscheinen und bisweilen unangenehm sein: So ist es nun mal.

Mit diesem Zustand müssen die hiesigen Juden - ohne Rücksicht auf ihre jeweilige politische Anschauung in Sachen Israel - zurechtkommen. "Die Deutschen", wenn man doch verallgemeinern dürfte, sind nicht dumm, selbst wenn sie bei der Jüdischen Gemeinde wegen Visum nach Israel anrufen. Unbewusst spüren sie diese Verbindung (und wer sich deren doch bewusst wird, ruft eh nicht bei der Jüdischen Gemeinde an). Auf Hebräisch heißt es sprichwörtlich, dass man den Kuchen nicht aufessen und dennoch unversehrt beibehalten kann; das wissen vielleicht manche Stadträte und Pädagogen nicht, aber viele muslimische Jugendliche schon. Wir können es hinnehmen, wir können es ja auch leugnen, aber ändern lässt es sich anscheinend nicht.

Samstag, 17. Februar 2007

Der Holocaust im 21. Jahrhundert

Als Erstes sei vorweggenommen: Ernst Zündel ist als Neonazi und Holocaustleugner aufs Schärfste zu kritisieren. Desgleichen David Irving, der jetzt wegen Ähnlichem im österreichischen Gefängnis sitzt.

Nach dieser Verbindlichkeit können wir nun auf die eigentliche Frage eingehen: Wollen wir mit Holocaustleugnern wirklich so umgehen, wie man früher Ketzer behandelt hat, also indem wir sie wegen ihrer abweichenden Meinungen bestrafen? Das kommt darauf an, ob wir den Holocaust zum Glaubensbekenntnis, ja zu einer Art Religion machen bzw. werden lassen wollen. Genauer betrachtet geht es aber darum, in was für einer Gesellschaft wir leben wollen: Entweder ist man bereit, für die Redefreiheit derjenigen zu kämpfen, deren Meinungen man ganz abscheulich findet, oder man ist unbedingt bereit, sich mit einer Gesellschaft abzufinden, in der manche - heute noch wenige, morgen vielleicht mehr - Meinungen gesetzlich verboten sind. Denn erst beim Kampf um den Schutz von Meinungen, die wir selbst nie wieder hören möchten, wird die Redefreiheit in unserer Gesellschaft tatsächlich geprüft - und dann entweder durchgesetzt oder aufgegeben. Dabei geht es notabene nicht um Volksverhetzung: In dem Moment, wo man zur Verfolgung anderer aufruft, hat man sein Recht auf Redefreiheit verloren. Jedoch sind Äußerungen wie "den Holocaust/die Gaskammern hat es nicht gegeben" noch kein solcher Aufruf. Die Unterscheidung ist sehr fein, deswegen aber umso wichtiger.

Das gesetzliche Verbot der Holocaustleugnung wirft aber noch weitere, ebenso schwierige Fragen auf: Wie kann es z. B. sein, dass man nicht den Holocaust, aber zu gleicher Zeit und in demselben Land die Existenz Gottes doch leugnen darf? Ist unsere Vorstellung vom Holocaust wichtiger als die vom Gott? In dem Fall kann schon vom Holocaust als einer neuen Religion die Rede sein - oder wie es Avishai Margalit und Gabriel Motzkin formuliert haben: »a negative myth of origin for the post[-]war world«[1].

Eine andere Frage wäre, warum die Leugnung des deutschen Völkermordes an den Juden verboten, die des türkischen Völkermordes an den Armeniern hingegen erlaubt sein sollte. Trotz der wesentlichen Unterschiede zwischen beidem muss man hier doch eine grundsätzliche Entscheidung treffen: Darf man Völkermorde in Frage stellen - oder nicht? Darf man, solange nicht verhetzt wird, über alles diskutieren - oder eben nicht?

Die schwierigste Frage ist jedoch, wer vom Verbot profitiert, also ob diese Maßnahme uns zum Ziel verhilft. Dass man keine Meinungen in Haft nehmen kann, ist klar. Genauso klar soll aber auch sein, dass wir gar nicht gewinnen können, wenn wir den Revisionismus - oder etwa die Neonazis - durch Verbot bekämpfen. Denn wenn man es versucht, ist man nicht besser, vielleicht sogar noch schlechter als seine Gegner - und da hat man den Kampf schon am Ansatzpunkt verloren. Man weiß immer, wie man mit dem Verbot anfängt, aber nie, wie die Sache noch enden und mit wie vielen Verboten man noch rechnen sollte.

Als Letztes bleibt noch der Gedanke: Was bedeutet es überhaupt, dass es den Holocaust gegeben hat, wenn diese Aussage nicht zur Diskussion stehen, wenn das Gegenteil nicht behauptet werden darf? Kann man ehrlich vom Weißen reden, ohne das Schwarze zu berücksichtigen? Kann man wirklich das Tageslicht beschreiben, ohne die Nacht zu kennen...?

Nachtrag (21.02.2007): David Irving sitzt nicht mehr im Gefängnis (a Dank an Stefan für den Hinweis).

~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~
[1] Avishai Margalit and Gabriel Motzkin, »The Uniqueness of the Holocaust«, Philosophy and Public Affairs 25 (1996), pp. 65-83, here 80-81. Siehe auch: Moshe Zimmermann, »Globalisierte Erinnerung«, in: Zeichen, Heft 2 des Jahres 2000 (verfügbar unter: http://www.asf-ev.de/zeichen/00-2-08.shtml), wo es steht: »Daß die Shoah zum Fundament der Welt geworden ist, kann man nicht bestreiten.« – was ja wenigstens auf den so genannten Westen zutrifft.

Donnerstag, 15. Februar 2007

Rache ist wichtig

In der letztwöchigen Ausgabe der Jüdischen Allgemeinen (Nr. 6/07 vom 8. Februar) sind die kurzen Stellungnahmen von fünf Rabbinern in Deutschland zur Freilassung der ehemaligen RAF-Terroristen veröffentlicht (S. 15) und zwar unter dem zusammenfassenden Titel "Reue ist wichtig". Dort beziehen sich alle Rabbiner in ihren Antworten ausschließlich auf die Straftäter und in dieser Hinsicht ist die Frage nach deren Reue in der Tat wichtig. Aber ist das die einzige Hinsicht, die es in dieser Diskussion zu berücksichtigen gilt?

Die Bestrafung findet nicht gerade beim Täter und dessen Leiden, sondern vielmehr im Verhältnis der bestrafenden Gesellschaft zu dem von ihr Bestraften statt. Durch die Bestrafung setzt die Gesellschaft ihre moralischen Grenzen, erklärt ihre Werte und verteidigt ihre Vorstellung von Gerechtigkeit. Eine zu leichte Bestrafung ist nicht gerade deshalb abträglich, weil sie etwaige, künftige Täter nicht abscheut, sondern vor allem deshalb, weil sie die Moral der Gesellschaft schwächt und deren Rechtsgefühl unterminiert. Bei der Ausübung von Gerechtigkeit - nach welchem Verständnis davon auch immer - ist leider kein goldener Mittelweg möglich, denn die Gesellschaft wird dabei geprüft und dadurch entweder gestärkt oder geschwächt.

Aus diesem Grunde war z. B. der in juristischer Hinsicht nicht gerade annehmbarer Schauprozess gegen Adolf Eichmann so wichtig - also nicht deswegen, weil Eichmann am Ende eines unnatürlichen Todes starb, sondern weil Israel ihn mit dem Tode bestrafte und somit sein Rechtsgefühl durchsetzen konnte. Ein anderes, diesmal negatives Beispiel: Es wird behauptet, Arafat sei nicht einfach so todkrank geworden, sondern von israelischen Geheimagenten angesteckt worden. Was aber die Moral betrifft, ist diese Frage eigentlich belanglos: So oder so ist Arafat nicht öffentlich hingerichtet worden. Diese Prüfung (nebst vielen anderen dieser Art) hat Israel nicht bestanden, woraufhin seine Moralität unleugbar geringer und sein Rechtsgefühl schwächer geworden ist.

Gerechtigkeit muss bekanntermaßen gesehen, also erlebt werden. Sie muss öffentlich und ausreichend ausgeübt werden, nicht damit der Täter stirbt, sondern damit die Gesellschaft tötet; nicht damit der Täter leidet, sondern damit die Gesellschaft rächt. Nicht nur der Täter ist wichtig, sondern vor allem auch die Gesellschaft; nicht nur die ehrliche Reue, sondern vor allem auch die moralische Rache trägt zur Vervollkommnung der Welt bei.

Was nun die Freilassung der ehemaligen RAF-Terroristen anbelangt, so kann und will ich als Außenseiter keine Antwort auf diese Frage geben, zumal ich mich als Jude grundsätzlich von der Moral distanziere, die für dieses deutsche Thema relevant ist, nämlich von der christlich-abendländlischen Moral, welche die Rache sowieso ablehnt.

Nachtrag (17.02.2007): Obwohl dieser Eindruck wohl schon entstehen kann, wird hier notabene nicht behauptet, dass man die RAF-Terroristen damals hätte hinrichten sollen. Mit den obigen Beispielen wollte ich nämlich nur veranschaulichen, dass bei der jetzigen Diskussion über ihre Freilassung nicht nur der Zustand der Bestraften (Reue etc.), sondern vor allem auch die möglicherweise negativen Auswirkungen einer Freilassung auf die Moralität der bestrafenden Gesellschaft zu berücksichtigen sind.

Mittwoch, 7. Februar 2007

Oliver Reeses Stück "Goebbels" im Deutschen Theater

Im Rahmen eines internationalen Studienprogramms, an dem ich hier in Berlin teilnehme, habe ich eine kurze Rezension des Theaterstücks "Goebbels" geschrieben:

Vom pathetisch-rührenden Anfang durch den aufregenden Aufstieg bis zum drohenden Untergang begleiten wir die Person Josef Goebbels in ihrer widersprüchlichen Vielfalt, die Goebbels selbst in seinem Tagebuch sorgfältig beschrieb. Auf einer minimalistisch gestalteten Bühne treten bald abwechselnd, bald gleichzeitig vier Figuren auf, die verschiedene Stadien in seiner Entwicklung als eigenständige Minipersönlichkeiten verkörpern, wodurch auch die Konflikte zwischen den teilweise entgegengesetzten Seiten zum Ausdruck kommen: Dieses Theaterstück dürfte auch »Josef« heißen. Auf die bekannten, sonst wo so oft aufgegriffenen Hintergrundinformationen wird dabei verzichtet, sodass im kleinen Saal eine intime Vertraulichkeit mit den letzten Endes allgemein menschlichen, ewig aktuellen Wünschen und Ängsten des teuflisch Begabten, aber läppisch Lahmen entsteht. Ob Goebbels sich der von ihm mit durchgeführten Katastrophe schlussendlich doch bewusst werden konnte, wirkt vor diesem Hintergrund eher nebensächlich; vielmehr wird man mit der Frage konfrontiert, ob Goebbels sich dabei als Mensch entfaltete, manifestierte und vollends zum Ausdruck kam, ob er also sein Leben auslebte. Zumindest mit einer Seite des selbst beschriebenen Goebbels – sei es mit dem ängstlichen Nebbich, dem Möchtegerncasanova, dem Fachdemagogen oder dem linientreuen, eigentlich unverwirklichten Künstler – kann sich der Zuschauer identifizieren: Hätte er anders machen können oder gar wollen? Und inwiefern wird unser Leben nicht von uns selbst gestaltet, sondern von einem Zufall, einer Banalität, etwa einem geschwollenen Fuß von der Kindheit an schicksalsmäßig bestimmt? Oliver Reeses »Goebbels« ist ein Stück, das bisweilen über die geschichtlichen Fakten hinausgeht und das allgemein Menschliche zu berühren weiß.

Eine weit längere Rezension findet ihr in der taz (mehr konnte ich im Netz nicht finden).

Donnerstag, 1. Februar 2007

Zur Problematik der Moralpolitik im heutigen Europa

Beim Mittagsessen habe ich im Phoenix die heutige Bundestagssitzung gesehen, wo u. a. auch über Genitalverstümmelung diskutiert worden ist. Eine Frau von der CDU, an deren Namen ich mich nicht mehr erinnern kann, hat dort gesagt: "Die weibliche Genitalverstümmelung ist weder durch Tradition noch durch Religion zu rechtfertigen." (Nachher habe ich den Satz anscheinend wortgetreu auf der Website der CDU gefunden.) Natürlich bin ich ebenfalls gegen diese Sitte, nur würde ich nicht behaupten, dass sie "weder durch Tradition noch durch Religion zu rechtfertigen" wäre; ganz im Gegenteil: Alle Sitten, darunter diese wie auch die der männlichen Beschneidung im Judentum, auf die wir noch zurückkommen, lassen sich eben nur durch Tradition und Religion rechtfertigen, wenn man in Bezug auf Sitten überhaupt den Begriff "Rechtfertigung" gebrauchen kann.

Das Wichtigste am oben zitierten Satz ist also, was damit eben nicht gesagt wird: Nämlich, dass die ganze Sache eigentlich nichts mit Tradition und Religion als solchen zu tun hat, denn eigentlich ist es die in unserer heutigen Gesellschaftsordnung dominierende Vernunft der Aufklärung (mit oder ohne Anführungszeichen), durch die diese - auch m. M. n. menschenverachtende! - Sitte nicht zu rechtfertigen sei. Es ist eben diese in sich geschlossene Vernunft, die diese Rechtfertigung zuerst überhaupt verlangt, um sich dann zum Richter darüber - und eigentlich über alles Menschliche - aufzuwerfen und das Verlangte somit schon von vornherein zu verunmöglichen. Die rhetorische Forderung nach Rechtfertigung ist folglich nichts mehr als eine euphemistische Falle, die eine selbstgefällige Pseudodiskussion schafft, indem sie uns dorthin (ver)führt, wo eigentlich keine echte Diskussion mehr möglich ist. Die aufklärerische Vernunft ist selbst eine zwar junge, aber sehr gut verhüllte Tradition und Religion. Sie diskutiert nicht mit ihren Konkurrenten; sie duldet sie nur, um sich selbst als aufgeschlossen und weltoffen zu gefallen. Das tut sie jedoch nur solange sich fremde, also nicht aufklärerische Tradition und Religion friedlich mit deren Restplatz am Rande der aufklärerischen Gesellschaftsordnung begnügen können. In dem Moment, wo die Konkurrenz den aufklärerischen Fanatismus herausfordert - etwa durch mit fremden Werten, fremder Moral zusammenhängende Sitten -, wird sie nicht mehr geduldet, sondern fortan - etwa als "ungerechtfertigt" - ausgeschlossen.

Wie gesagt, bin ich ja auch ausgesprochen gegen die weibliche Genitalverstümmelung, was aber im Vergleich mit der männlichen, etwa im Judentum, große Schwierigkeiten erzeugt, insbesondere wenn man sich an den Streit um die jüdische Beschneidung im 18. und 19. Jahrhundert erinnert: Damals wurde diese jüdische Sitte - und somit die jüdische Tradition und Religion schlechthin - mit aufklärerischen, also wissenschaftlichen bzw. medizinischen Argumenten angegriffen und zwar nicht nur von antiemanzipatorischen Nichtjuden, sondern auch von in die aufgeklärte Umgebung assimilierten Juden. Daraufhin fühlten sich manche Juden gezwungen, die Beschneidung zu rechtfertigen, selbstverständlich nach den erzwungenen Spielregeln der aufgeklärten, also medizinischen Pseudodiskussion. Aber nicht erst in der Neuzeit, sondern bekanntermaßen schon im Altertum wurde die jüdische Moral zum Opfer der jeweiligen Aufgeklärtheit verschiedener Herrscher, die jedoch im Gegensatz zu den europäischen Aufgeklärten nicht nur diese Sitte aufs Schärfste kritisieren und uns somit ausschließen, sondern gerade das Gegenteil davon, nämlich die Beschneidungssitte schlechthin verbieten und uns zur Assimilation zwingen wollten - also nicht so sehr anders, wie man denken möchte, als der heutiger Kreuzzug der Aufgeklärten gegen die weibliche Genitalverstümmelung.

Und heute? Erst nachdem die europäische Aufklärung in ihrer Ausdrucksvielfalt an die Grenzen ihrer falschen Zweifellosigkeit in den Gulags und den KZs gestoßen war, brauchte sich das Judentum in einer deutlichen Manifestation historischer Dialektik nicht mehr zu rechtfertigen. Demzufolge dürfen wir heute gesetzlich ganz, gesellschaftlich fast ungestört unsere Söhne in Abrahams Bund mit Gott hineinbringen bzw. - nach aufklärerischen Maßstäben - genital verstümmeln. Das rührt aber vom Trauma der europäischen Aufklärung her und heißt noch gar nicht, dass die heutigen Aufgeklärten unsere Moral, unsere "Tradition und Religion", unsere Sitten als solche akzeptieren könnten. Darauf, dass sie in der Tat noch immer nicht dazu fähig sind, weist auch die Rechtsstellung des koscheren (und inzwischen auch halalen) Schlächtens hin, das im (in mancher Hinsicht wohl schon) neuen und anderen Deutschland nun wieder erlaubt, aber in anderen, sehr aufgeklärten bzw. nicht selbst von den Spätfolgen der Aufklärung traumatisierten europäischen Ländern, wie Schweden und die Schweiz, noch immer verboten ist.

Und somit gelangen wir zur Gretchenfrage: Wollen wir den Kreuzzug der schon wieder fanatisch wirkenden Aufgeklärten gegen die "ungerechtfertigte" Moral der weiblichen Genitalverstümmelung unterstützen und dabei das Risiko eingehen, dass wir daraufhin unsere eigene männliche Genitalverstümmelung selbst wieder rechtfertigen müssten, wie es heute noch (oder vielleicht: heute schon!) mancherorts mit der Moral des jüdischen Schlächtens steht? Oder wollen wir anderen ersparen, was uns bis vor kurzem so unangenehm war, selbst wenn es um etwas geht, was uns als eine "Perversion" (so auf der besagten Website der CDU) erscheint? Eine klare Antwort kann ich hier nicht geben; jedoch sollen wir unsere Entscheidung - egal, welche - nicht aus falscher Identifikation mit der dominierenden, uns umgebenden aufklärerischen "Vernunft", sondern aus unserem jeweiligen Verständnis jüdischer Moral im Allgemeinen und in Bezuf auf Nichtjuden im Besonderen treffen. Und da muss schon jeder für sich selbst denken.