Montag, 20. August 2007

Enttäuschende Wissenschaft

Wenn wir schon bei Buchkritik sind, widme ich mich einem anderen Werk, das mir ein Freund geliehen hat: Günter Mayer (Hrsg.), Das Judentum (die Religionen der Menschheit, Band 27). Stuttgart, Berlin, Köln: Verlag W. Kohlhammer, 1994. Kein neues Werk also, aber auch kein sehr altes.

Das Werk ist 526 Seiten stark. Reicht das für einen so anspruchsvollen Titel wie "das Judentum"? Anscheinend nicht, denn Band 26 in dieser Reihe heißt: Israelitische Religion. Naja, dass die Religion des Volkes Israel sich mehrmals weitgehend geändert hat, ist klar; sehr fraglich ist aber die begriffliche Unterscheidung zwischen dem "Judentum", das heute noch besteht, und der "israelitischen Religion", die der fernen Vergangenheit angehört. Damit wollen die Herausgeber wohl verhindert haben, dass irgendwelche Verrückten mit osteuropäischen Wurzeln auf die unwahrscheinliche Idee kommen, die Religion Israels in ihren verschiedenen Phasen als kontinuierlichen, sozusagen "authentischen" Entwicklungsgang zu begreifen. Allerdings setzt man damit nur eine alte Problematik fort, die bis in die Anfänge der deutschen Geschichtswissenschaft im 19. Jh. zurückgeht. Demgegenüber heißt der 28. Band in dieser Reihe schlicht und einfach das Urchristentum, ganz zu schweigen vom Islam, der in ganzen drei Bänden thematisiert wird, welche die wohl differenzierenden Titel tragen: Der Islam I, Der Islam II und Der Islam III.

Immerhin bleibt die Frage, was man in 526 Seiten alles aufgreifen kann. Ein Blick ins Inhaltsverzeichnis verrät einen etwas verzerrten Blick auf die jüdische Geschichte. Erstens will sich der Herausgeber fast nur mit der Neuzeit befassen: Im Kapitel "Geschichte des nachbiblischen Judentums in Grundzügen" werden der Antike 10 Seiten, dem Mittelalter ebenfalls 10 Seiten, der Neuzeit aber 20 Seiten gewidmet und dann kommt auch noch die neueste Zeit mit weiteren 11 Seiten. Im Kapitel "Die Entwicklung der Halaka" bekommt die Antike genau 2 Seiten, das Mittelalter und die frühe Neuzeit zusammen bekommen 7 Seiten, und die späte Neuzeit bis heute bekommt in mehreren Kapiteln insgesamt 28 Seiten. Andere Beispiele gibt es auch, aber ihr versteht schon, worum es dem Herausgeber geht.

Dieses Phänomen ist notabene nicht darauf zurückzuführen, dass bis zur späten Neuzeit nicht so viel geschehen wäre, sondern vielmehr darauf, dass alles, was sich bis dahin ereignet hat, für den Herausgeber nicht so wichtig erscheint. Dies rührt wiederum wohl daher, dass es sich dabei um Entwicklungen innerhalb des traditionellen Judentums handelt, womit wir auf die zweite Verzerrung kommen: Der Herausgeber will sich fast nur mit den nichtorthodoxen Strömungen befassen, was nun die erste, chronologische Verzerrung zu erklären vermag.

Das wird bestens am Kapitel "Jüdisches Denken im 20. Jahrhundert" deutlich, das 184 (!) Seiten umfasst (zum Vergleich: Das Kapitel "die Bibel und ihre Geschichte" umfasst 35 Seiten, das Kapitel "Philosophie und Mystik [bis zum 20. Jahrhundert]" umfasst 64 Seiten). Dieses riesengroße Kapitel teilt sich in zehn Unterkapitel, die jeweils Leben und Werk einer Persönlichkeit beschreiben: Hermann Cohen, Franz Rosenzweig, Martin Buber, Leo Baeck, Mordechai Menachem Kaplan, Richard L. Rubenstein, Emil L. Fackenheim und Abraham Joshua Heschel. Fehlt hier etwas? Ach, ja: Neben all diesen Denkern kommt auch "das orthodoxe Judentum" zu Wort und zwar im Unterkapitel "Das orthodoxe Judentum: Rab Kook und Rabbi Soloveitschik", denen zusammen 20 Seiten gewidmet sind... Das zehnte Kapitel heißt übrigens "Die weitere Entwicklung".

Womit lässt sich diese zweite, thematische Verzerrung erklären? Sie hat wohl irgend etwas mit der Sprache zu tun. Nicht wenigen Wissenschaftlern fällt der Umgang mit der hebräischen Sprache schwer, weshalb sie gerne hebräische Quellen übersehen. Und nun ist es mal so, dass "orthodoxe" Schriften, die an die Gelehrten gerichtet sind, eben auf Hebräisch geschrieben werden.

Ich vermute aber, dass dem verzerrten Blick noch etwas zugrunde liegt, nämlich Ideologie. Um das zu beweisen, muss man nicht nur die Form, sondern auch den Inhalt heranziehen. Allerdings verbiete ich mir Texte (in diesem Fall: Kapitel) zu kritisieren, die ich nicht von A bis Z gelesen habe, weshalb ich mich hierbei auf ein Kapitel beschränken muss: "Die Halaka der Konservativen", geschrieben von Phillip Sigal s. A. und Günter Mayer. Dieses Thema passt zu unserer kleinen Untersuchung eigentlich ganz gut, da es im konservativen Judentum von den Anfängen an eine Spannung zwischen zwei Neingungen gibt: Einerseits zur Reform, andererseits zur Tradition. Werden sich die Verfasser objektiv verhalten können? Fangen wir an (meine Hervorhebungen):

S. 113: "[Sabato] Morais gehörte zu denen, die in Fragen der Liturgie zu echten halakischen Konzessionen bereit waren [...]" - In einem wissenschaftlichen Text soll es weder echte noch unechte Konzessionen geben; wenn der Wissenschaftler die erforderliche Distanz bewährt, vermag er die Echtheit einer Konzession gar nicht mehr zu beurteilen. Eine derartige Beurteilung gehört sich dann auch nicht mehr. Die Verfasser wollen wohl sagen, dass die besagten Konzessionen größer waren als frühere. Nun wissen wir, dass diese Konzessionen zudem groß genug waren, damit die Verfasser sie ganz persönlich für "echt" halten. Aber in einem wissenschaftlichen Werk ist dieser persönliche Geschmack vollkommen falsch am Platz.

S. 113: "[...] auch wenn die führenden Vertreter der Konservativen anerkannten, daß gewisse Rituale obsolet geworden waren," - wo ist der notwendige Konjunktiv? - weiter: "hatten manche unter ihnen immer noch einen orthodoxen Hang zu einem Schulhan 'aruk, wenn auch einem modernen." - Warum nicht "Neigung"? Oder "Vorliebe"? Ach so, weil die Verfasser den Schulchan Aruch negativ bewerten...

S. 115: Die Verfasser zitieren Boaz Cohen und schreiben dann: "Gerade durch diese Sprache [...] unterscheiden sich selbst traditionalistische oder fundamentalistischer eingestellte Fraktionen der eigentlich zu Unrecht so genannten 'konservativen' Bewegung von der Orthodoxie." Wenn es innerhalb des konservativen Judentums Fraktionen gibt, die den Verfassern zumindest gewissermaßen fundamentlistisch erscheinen, möchte ich gar nicht wissen, was für Vorurteile die Verfassen gegen die orthodoxen Strömungen haben...

S. 116-117: Die Verfasser besprechen ein konservatives Rechtswerk: "Zum großen Teil wiederholt es die traditionelle Halaka der Orthodoxie, ohne zu berücksichtigen, daß viele dieser Normen für die religiöse Observanz konservativer Juden keine Rolle spielen" - Na und? Ein Rechtswerk soll vorschreiben, wie Menschen bzw. Juden leben sollen. Es hat ein erstrebenswertes Ideal vorzulegen und braucht das Gegenwärtige nicht zu verkoschern. Es sei denn, die Verfasser finden das jeweilige Ideal - ihrem persönlichen Geschmack nach - nicht erstrebenswert: "Aufs ganze gesehen ist diese Kompilation der Ausdruck der persönlichen fundamentalistischen Meinung ihres Autors." Naja, jeder Text ist der Ausdruck der persönlichen Meinung seines Autors - mit einer Ausnahme: Gerade wissenschaftliche Texte sollen es tunlichst vermeiden. Das ist zugegebenermaßen nicht immer leicht, aber ein guter Wissenschafter muss zumindest versuchen, sachlich zu bleiben.

S. 117-118: "Obwohl einige konservative Rabbiner immer noch glauben, daß die Frauen auch im rahmen der traditionellen Praxis religiöse Erfüllung finden könnten, ordiniert das Jewish Theological Seminary jetzt Frauen zu Rabbinern [...]" - Falscher Konjunktiv. Denn nicht nur "einige konservative Rabbiner", sondern vor allem auch viele Jüdinnen haben eine kritische, ja immer kritischere Einstellung zur (angeblichen oder tatsächlichen) Vermännlichung der jüdischen Frau in linksextremen bis linken Kreisen während der letzten Jahrzehnte. Aber vielleicht ist das Buch ja zu früh erschienen, um diese Kritik in Betracht zu ziehen.

S. 118: "Wie die Entscheidung, den konservativen Synagogen den Verzicht auf den rabbinischen zweiten Diasporafeiertag zu erlauben, so löste auch die Entscheidung, Frauen zum Minjan zuzulassen [gemeint ist: mitzuzählen, denn die Teilnahme am Gottesdienst war den Frauen ja nie verboten], in den Reihen der Orthodoxen heftige Kritik aus. Bündig kommt sie etwa bei J. David Bleich zum Ausdruck [...] Dieser Angriff [seitens Bleichs] verdient nur insofern Beachtung, als er ein Beispiel des orthodoxen Alleinvertretungsanspruchs in der Halaka ist." (auf S. 119 wird auf "den diesbezüglichen Anspruch der Orthodoxie" nochmals Bezug genommen.) Hier muss ich mich schon fragen, ob die Verfasser sich wirklich so gut mit der Materie auskennen wie sie es tun sollen. Wie kann man in einem wissenschaftlichen Werk überhaupt jemand, den man zitiert, einfach nur als "orthodox" beschreiben? Genauso gut hätten ihn die Verfassen auch als "einen Juden mit europäischen Wurzeln" bezeichnen können, denn genauso wenig kann man daraus schließen. Was ist überhaupt "die Orthodoxie"? Es gibt doch so viele Strömungen und Auffassungen, Streitpunkte und lebensstilistische Unterschiede. Was uns zur eigentlichen Frage bringt: Wie sollte es denn einen "orthodoxen Alleinvertretungsanspruch in der Halaka" geben können, wenn es nicht einmal eine "orthodoxe Halacha" gibt? Das Einzige, was allen "orthodoxen" gemeinsam ist, ist die eher theoretische Verpflichtung zum Schulchan Aruch (und bei manchen jemenitischen Juden: zum Mischne Tora). Sie ist deswegen theoretisch, weil es heute keine Gemeinde gibt, deren Bräuche und Riten wirklich dem Kodex entsprechen, den Karo vor fast fünf Jahrhunderten zusammengestellt hat. Diese Unterstellung seitens der Verfasser hört sich fast so an wie die alten Verschwörungstheorien gegen "die Juden", die trotz aller inneren Unterschiede ein gemeinsames - und wohl nur zufälligerweise ebenfalls negatives - Ziel hätten erstreben sollen.

So, mit diesem Kapitelchen bin ich fertig, und das waren ja nur 8 Seiten. Was kann man also sagen? Mit ihrer wiederholt unsachgemäßen Haltung bzw. Ausdrücksweise kommen die Verfasser leider kaum durch. Mir kommt es folglich so vor, als verträten nicht die in diesem Kapitel Kritisierten, sondern vielmehr die Kritiker eine fundamentalistische, weil linksextreme Haltung. Andere Kapitel möchte ich nicht kommentieren, weil ich sie, wie gesagt, aus Zeitgründen nicht durchlesen konnte. Aber gerade an diesem Kapitel war auch der Herausgeber, Günter Mayer, als Mitverfasser beteiligt. Und für das oben besprochene Inhaltsverzeichnis, d.h. für die Struktur dieses Werkes, war der Herausgeber natürlich auch verantwortlich. Ob diese Kongruenz zufällig ist?

Sonntag, 12. August 2007

Der Rabbi, der ein vorzeitiger Pazifist sein sollte

Vorige Woche habe ich ausnahmsweise ein Kinderbuch gelesen (immerhin gefällt mir das Gefühl, auf gleicher Augenhöhe angesprochen zu werden): Marc-Alain Quaknin und Dory Rotnemer, Der Rabbi, der seine Geschichten verschenkte. Erzählungen aus dem Judentum (Lahr: Verlag Ernst Kaufmann, 1997 [Gallimard, 1994]); aus dem Französischen von Daniela Nußbaum-Jacob, religionswissenschaftliche Beratung von Dr. Ilas Körner-Wellershaus.

In diesem einladend gestalteten und schön illustrierten Buch findet man sechs Bearbeitungen von Erzählungen aus der jüdischen Tradition, umgeben von allerhand Wissenswertem, das mehr oder weniger mit der jeweiligen Erzählung zusammenhängt. Abgeschlossen wird das Buch mit drei ebenfalls kindergerechten Einführungen ins Judentum. Bemerkenswerterweise sind die Angaben trotz der notwendigen Vereinfachung i. d. R. zutreffend formuliert. Nur eine Stelle hört sich ganz merkwürdig an, und zwar die wichtigste, nämlich der rückseitige Werbetext (meine Hervorhebung):

Sechs Erzählungen aus [soll es hier übrigens nicht "von" heißen - wegen "von ... bis" - ?] der biblischen Zeit Salomons bis hin zu den Ereignissen um einen Rabbi im Russland des 19. Jahrhunderts zeigen auf, wie die Juden in vielen Ländern und zu verschiedenen Zeiten gelebt haben. Lebendig geschildert wird dabei auch, wie sie Probleme stets durch Nachdenken und nicht mit Gewalt gelöst haben.

Da stellen sich gleich doch einige Fragen: War es denn wirklich so, dass die Juden sich "stets" gewaltlos verhielten? Und in den Fällen, wo es tatsächlich so war - wollten sich die Juden so verhalten? Und konnten sie auf diese Weise überhaupt das Problem lösen? Oder haben eher manche Nichtjuden selbst für eine "Lösung" gesorgt?

Im Einklang mit dem Werbetext wagen die jüdischen Figuren, mit denen sich die jungen Köpfe bekannt machen sollen, nie, Gewalt auszuüben; selbst nicht dann, wenn sie verfolgt werden - etwa in der Geschichte vom Prager Rabbi Löw, wo es zu einem bevorstehenden Pogrom kommt:

Das Tor sprang auf und die Christen ["die Christen"? A-l-l-e ?!] drangen in wildem Durcheinander in die Synagoge.

Und was machen dann die Juden?

Starr vor Entsetzen drängten sich die Juden in einer Ecke zusammen.

Macht euch aber, liebe Kinder, keine Sorgen: Am Ende kommt der Prinz und rettet die Prinzessin. Dem wirklichkeitsfremden Golem ist es nämlich in diesem Kinderbuch erlaubt, Gewalt auszuüben, wenn es nötig ist. Den jüdischen Prinzessinnen ist so etwas leider nicht gestattet.

Das Buch ist in der Reihe "Geschichte vom Himmel und der Erde" erschienen. Neben dem altruistischen Rabbi liegen bereits Kinderbücher zum Islam, Hinduismus, Christentum, Buddhismus u. a. vor. Wahrscheinlich sind die anderen Bücher nicht mit demselben Werbetext versehen, also scheint hier die Gewaltlosigkeit eine vermeintlich typisch jüdische Tugend zu bilden. Aber warum? Warum will man die Juden - heutzutage! - überhaupt so darstellen? Was wird damit bezweckt?

Ich vermute, dass mit diesem scheinbar harmlosen Judenbild den jungen, unkritischen Lesern suggeriert werden soll, dass "richtige" Juden die Gewalt scheuen würden, wie es die "guten" Figuren tun, denen die Kinder im Buch begegnen. Und die neuen Hebräer in Palästina, denen die Kinder im Fernsehen begegnen können? Ach, die sind anscheinend keine richtigen Juden - und schon gar nicht gut.

Die verlorene Norm und die ersehnte Brüderlichkeit: a langes Wörtl far Mozej-Schabbes-Kojdesch Par. "Re'e"

In der Parscha der vorhin ausgegangenen Woche heißt es: "Lo titgodedu" (5. Mose Kap. 14:1), d.h. "ihr sollt nicht ..." - nicht was? Aus Raschis Kommentar zu diesem Wort, das auch sonstwo in der Bibel vorkommt (vgl. 1. Könige 18:28; Jeremia 16:6, 41:5, 47:5) lernen wir, dass es sich hier um das Verbot handelt, den eigenen Körper so wund zu ritzen, wie es die Amoriter machten, um auf diese Weise ihre Trauer über den Tod eines Verwandten o. Ä. zum Ausdruck zu bringen. Aus der Tosefta (Makot 3:9) lässt sich folgern, dass dieses Ritzen in der amoritischen Religion mit einem besonderen Gerät ausgeführt wurde, wahrscheinlich bis das Fleisch blutete: "Wer sich bei Todesfällen mit der Hand wund ritzt, ist [von Strafe] befreit [weil hier anscheinend kein Götzendienst zu vermuten ist]; wer es aber mit einem Gerät tut, der soll bestraft werden; wer es als Götzendienst - egal, ob mit der Hand oder mit einem Gerät - tut, der soll bestraft werden". Tur-Sinai übersetzt es folgendermaßen (ich führe den ganzen Vers an; kursiv steht das besagte Verbot): "Kinder seid ihr des Ewigen, eures Gottes. Ihr sollt euch keine Einschnitte machen und keinen Kahlschnitt zwischen euren Augen anbringen um eines Toten willen." Die ursprüngliche Bedeutung dieses Verbots ist also, etwas zu vermeiden, was unter den seinerzeitigen, andersgläubigen Bewohnern des Landes üblich war. Das Verbot kommt also in einem klaren Zusammenhang vor, denn es gibt zahlreiche andere Verbote mit demselben Sinn, insbesondere in diesem Wochenabschnitt.

Der Talmud (Jewamot 13:2) bringt eine andere Interpretation vor: "Ihr sollt euch nicht in (eigenständige) Gruppen aufteilen". Diese Interpretation lehnt sich an ein sehr ähnliches Verb an, das zuweilen gleich geschrieben wird und "sich versammeln", "sich zu einer Gruppe formen" bedeutet (vgl. Jeremia 5:7); manchmal ist es sogar nicht klar, welche Bedeutung gemeint ist (vgl. Micha 4:14). Auch wenn sie inhaltlich eher zusammenhangslos erscheint, ist diese Interpretation zumindest in sprachlicher Hinsicht akzeptabel. Immerhin spielt die Einheit eine große Rolle, weil die Identität Israels nicht nur auf dem gemeinsamen Recht, sondern vor allem auch auf der gemeinsamen Herkunft basiert. Zudem scheint die erste Bedeutung seit Jahrtausenden keine richtige Herausforderung mehr zu bilden: Der amoritische Brauch ist so sehr in Vergessenheit geraten, dass Raschi es ja für notwendig erachtet hat, dieses Verbot zu erklären. Und so bleiben wir praktisch mit der späteren Interpretation: uns nicht in Gruppen aufzuteilen.

Und es ist tatsächlich diese Verurteilung der Aufsplitterung, die uns seit eh und je Schwierigkeiten bereitet. Früher waren es etwa das geteilte Königreich zur Zeit des ersten Tempels, die rivalisierenden Sekten zur Zeit des Zweiten Tempels, der Kampf gegen die Karäer usw. usf. Heutzutage gibt es Chassidismus im Allgemeinen und Chabad-Lubawitsch mit ihren Eigentümlichkeiten im Besonderen; aschkenasische Litwaks; sephardische Ultraorthodoxe; Nationalreligiöse mit sehr verschiedenen Auffassungen; der ebenso vage wie weit verbreitete Traditionalismus nach israelischer Art; die (langsam verschwindende?) "moderne Orthodoxie" nach US-amerikanischer Art; die noch auf der Suche befindlichen "Conservadoxen"; das neue konservative Judentum der letzten 25 Jahren (das sich auch weiterhin aufzusplittern scheint); das "linksextreme" Reformjudentum; und daneben auch andere Strömungen, die nicht unbedingt an Gott glauben...

Doch im Grunde genommen, wenn auch pauschalisierend, lassen sich die gläubigen Strömungen in zwei "Parteien" zusammenfassen, die es als solche freilich nicht gibt: Einerseits das "orthodoxe Judentum", d.h. die Strömungen, deren Ideal (und oft auch die Praxis) ist es, die Anweisungen im Schulchan Aruch, dem reichlich kommentierten, weil grundlegenden Rechtswerk des Judentums in der Neuzeit, zu befolgen (nebenbei bemerkt: für manche jemenitischen Juden ist es der Mischne Thorah des Maimonides); andererseits das "liberale Judentum", d.h. jene Strömungen, die aus unterschiedlichen Gründen sehr verschiedene Änderungen an diesem Grundwerk vorgenommen haben. Wie immer, wenn es sich um weltanschauliche Fragen handelt, scheint auch hier keine Versöhnung möglich zu sein. Konservative Juden verstehen sich mit Reformjuden weit besser als mit Litwaks, die sich wiederum - trotz aller "innerparteilichen" Kontroversen - weit besser mit Chassidim verstehen als mit Reformjuden.

Den Stein des weltanschaulichen Anstoßes bildet hier die Frage: Wie gilt es mit dem von allen ererbten jüdischen Recht umzugehen? "Die Liberalen" sagen, dass das jüdische Recht in unserer Volksgeschichte immer wieder aktualisiert, verändert oder durchaus reformiert wurde; und historisch betrachtet haben sie Recht: Man denke etwa an die "Neugründung" des Judentums durch Esra & Co. oder an die große Reform durch Rabban Gamliel von Jawne & Co., die das Fortbestehen Israels nach der Zerstörung des zweiten Tempels ermöglichte. Also, sagen "die Liberalen", warum soll man mit den Reformen nicht weitermachen, um die ererbte Tradition an die veränderten Umstände, diesmal also an die Moderne anzupassen? Jedoch haben "die Orthodoxen", die als "Kontrarevolutionäre" ebenfalls ein Produkt der Moderne sind, wohl begründete Ängste vor massiven Änderungen am jüdischen Recht. In der jüngeren Geschichte sind derartige Änderungen allzu oft in die Assimilation bzw. Akkulturation gemündet (3. Mose 18:3: "Ihre Bräuche sollt ihr nicht befolgen"). Außerdem wurden mit den beiden großen Reformen der Antike die Grundlagen schon weitgehend festgelegt, was nicht viel Platz für weitere Änderungen übrig lässt. Aber ausschlaggebend ist wohl die bloße Tatsache, dass die Moderne - im Gegensatz zu den Umständen bei den früheren Reformen - kein Zustand ist, der eine Reform erzwingt; ganz im Gegenteil: Dank moderner Technik und Technologie ist das Leben nach den Anweisungen des Schulchan Aruch weit leichter geworden.

Also? Hoffnungsloser Zustand des ewigen oder zumindest noch lange andauernden Kampfes? Nu, auch ein langes Wort soll sein a Wort, d.h. ein Happy Ending haben. Und so kommen wir auf unsere Parscha zurück, denn noch vor dem "lo titgodedu" heißt es (5. Mose 13:1): "Alles das, was ich euch gebiete, sollt ihr zu tun bedacht sein; du sollst nichts hinzufügen und nichts davon mindern." Das erinnert uns wohl an etwas, denn erst vor zwei Wochen haben wir gelesen (5. Mose 4:2): "Ihr sollt nichts hinzufügen zu dem Wort, das ich euch gebiete, und davon nichts mindern, zu wahren die Gebote des Ewigen, eures Gottes, wie ich euch gebiete." Dieses doppelte Verbot heißt im jüdischen Kanon "bal tosif" - aber wozu die Wiederholung? Der Wilnaer Gaon meint, die Wiederholung weist darauf hin, dass die beiden herkömmlichen Interpretationen zugleich richtig sind, nämlich: 1. es ist verboten, ein neues Ge- bzw. Verbot einzuführen oder ein bestehendes zu tilgen (d.h. das "Was" zu ändern); 2. es ist verboten, die vorgeschriebene Durchführung eines Gebotes zu erweitern oder zu verringern (d.h. das "Wie" zu ändern).

Nun ist aber so, dass man sowohl bei der einen als auch bei der anderen Partei weitgehende Abweichungen vom ursprünglichen Sinn des biblischen Textes feststellen kann. Ich meine jetzt nicht die Sachen, wo die mündliche Überlieferung notwendigerweise den schriftlichen Text ergänzt, z.B. bei der Praxis der Tfillin, die im schriftlichen Text nicht erläutert wird; sondern die zahlreichen "Sicherheitszonen" um das biblische Recht herum, die die alten Weisen verfügt haben, z.B. die Gleichsetzung von Geflügelfleisch mit Viehfleisch. Man kann also sagen, dass "die Liberalen" links von der rechtlichen Norm, "die Orthodoxen" hingegen rechts von der Norm stehen (aber nicht unbedingt in denselben Fragen).

Meiner Meinung nach sollte diese Norm, wenn möglich, wiederhergestellt werden. Wer "extra leisten" möchte, dürfte es auch weiterhin tun, jedoch gölte es dann eben als "Extraleistung", als das halachische Ideal und nicht mehr als die zu erwartende Norm. Der Begriff der Extraleistung - auf Hebräisch: "Chumra" (bei Verboten) oder "Hidur Mizwa" (bei Geboten) - ist im jüdischen Recht schon tief verankert und wird auch verschiedentlich angewandt.

Für die "liberale Partei" würde es heißen, die Norm zu erhöhen und auch dann hoch zu halten, wenn die Gemeinde sich nicht allzu gut daran hält. So war es z. B. bei den einstigen Konservativen in den USA, die sich nunmehr lieber als "conservadox" bezeichnen, nachdem das konservative Judentum in den letzten 25 Jahren extremer "Reformisierung" ausgesetzt gewesen ist; so war es auch in vielen modern-orthodoxen Synagogen (inzwischen hat aber auch diese Strömung wesentliche Änderungen durchgemacht und zwar in Richtung Ultraorthodoxie); und so ist es seit langem bei den orthodox gesinnten, aber nicht unbedingt orthodox lebenden Traditionellen in Israel (auf Hebräisch: "Masortijim", die aber nichts mit der konservativen "Masorti"-Bewegung zu tun haben). Meines Erachtens gibt es tatsächlich viele Juden, die aus ihrem (jeweils unterschiedlichen) Lebensstil keine neue, verbindliche Norm machen wollen und daher einer Gemeinde angehören wollen, deren "amtliche Norm" höher liegt als ihr (d.h. der Ersteren) eigener Lebensstil.

Fassen wir also den ganzen Gedankengang zusammen: Wie könnte man heutzutage das "lo titgodedu" befolgen? Indem man sich ans vorangehende und ebenso wichtige "bal tosif" hielte und auf diese Weise einen Kompromiss zwischen den beiden "Parteien" fände. Ja, das ist nichts mehr als ein Traum - dessen bin ich mir schon bewusst. Aber wie hat es jener assimilierte Jid formuliert? Wenn ihr es wollt...

Und in diesem Sinne: a gutn Chojdesch!

P.S. Apropos Herzl fällt mir was ein. In einer der wichtigsten Bibelstellen heißt es (4. Mose 15:39): "Und es soll euch zu Merkquasten sein, daß ihr es anseht und aller Gebote des Ewigen gedenkt und sie ausübt und nicht nachgeht eurem Herzen und euren Augen, denen ihr nachbuhlt" - Wos hejsst "ajer Harz"? Dos is Herzl! Un wos hejsst "ajere Äugn"? Dos is Kuk! ("Kukn" auf Jiddisch bedeutet auf Deutsch "gucken"... Ein uralter Witz eben, aus ultraorthodoxen Kreisen)

Sonntag, 5. August 2007

In der Tat a gute Kasche

Damit nicht der Eindruck entsteht, Chabad-Lubawitsch hätte "Immunität" vor meiner Kritik, nehme ich Bezug auf Chabad Berlins letzte "Jüdisches"-Ausgabe (Tammus/Aw 5767 bzw. Juli/August 2007). In der Rubrik "Frage und Antwort" hat man diesmal unter dem Titel "Warum ist das jüdische Gesetz so pingelig?" folgende Frage gebracht (das englische Original finden Sie hier; die deutsche Übersetzung hier):

Warum ist die jüdische Religion so von unwichtigen Details besessen? [...] Mir scheint, das größere Bild geht verloren, wenn man so viel Wert auf Nebensächliches legt. [...] Übrigens habe ich Ihnen diese Frage vor einer Woche schon einmal geschickt, aber keine Antwort erhalten. Haben Sie endlich einmal eine Frage bekommen, die Sie nicht beantworten können?

Und dann die Antwort von Rabbiner Aron (Aharon) Moss (laut chabad.org Lehrer für Kabbalah, Talmud und praktisches Judentum in Sydney, Australien):

Ich habe nie behauptet, alle Antworten zu kennen. [...] Ihre Frage habe ich allerdings sofort beantwortet. Dass Sie meine E-Mail nicht erhalten haben, ist schon die Antwort auf Ihre Frage!

Als ich Ihre Adresse tippte, habe ich nämlich den Punkt von dem "com" weggelassen. Ich dachte, Sie würden die Mail trotzdem bekommen, denn es handelte sich ja nur um einen kleinen Punkt. [...] Kann jemand so pingelig sein, zwischen "yahoocom" und "yahoo.com" zu unterscheiden? Ist es nicht lächerlich, dass Sie meine E-Mail nur wegen eines kleinen Punktes nicht erhalten haben?

Nein, es ist nicht lächerlich. Denn der Punkt ist mehr als ein Punkt. [...] Mir mag er unwichtig erscheinen, aber das liegt nur an meiner Unwissenheit, was das Internet anbelangt. [...]

Das jüdische Leben ist unendlich tief. Jede Nuance und jedes Detail enthält eine Welt an Symbolik. Und jeder Punkt zählt. [...]

Moss' Punkt (ha ha) ist klar; den Vergleich finde ich aber eher ungeschickt, denn damit wird der Abgrund zwischen Mensch und Maschine umso deutlicher. Der Computer ist eine Maschine, die nicht einmal für "dumm" gehalten werden kann, da es auch keine wirklich "klugen" Maschinen gibt; es kommt ja alles darauf an, wie der Mensch sie baut. Dieser hingegen ist ein intelligentes Lebewesen, das von alleine verstehen kann, was bspw. mit "Rathouse Schteglits" gemeint wird, sofern er sich mit der Materie (Berlin) auskennt. Möchten wir nun Gott, der sich mit der Schöpfung höchstwahrscheinlich auskennt, wirklich mit der Maschine gleichsetzen?

Offen gestanden, finde ich jetzt die Frage erst recht angebracht. Mir scheint tatsächlich, dass die halachische Norm stark "angeschwollen" ist und daher vorsichtig verringert werden soll; dementsprechend zu erweitern wäre dann das halachische Ideal.

Ein jüdisches Sprichwort sagt: Wenn der Gerechte des Städtls täglich nur 10 Minuten weniger lernte, würde der Schmied schon gar nicht mehr lernen. Aber wo sind heute die Schmiede? Sterben sie als "geistige Klasse" langsam aus? Lasst uns sie doch lieber reemanzipieren...

P.S. Wenn wir schon bei Verringerung sind: Ich kann schon verstehen, wie mancher auf die Idee kommt, "G-tt" statt "Gott" (oder "g-d" statt "god" usw.) zu schreiben. Und das sogar am Computer bzw. im Internet. Aber liebe Leute: Es gibt nichts, wirklich nichts, was an diesem Fremdwort - das ja zudem auch noch in einer fremden Schrift geschrieben wird - heilig sein könnte. Ganz im Gegenteil: Wenn man undifferenziert allerlei heiligt, verliert gerade das an Bedeutung, was wirklich als heilig zu erachten ist.

Samstag, 4. August 2007

Zum Wesen Israels und der Übertrittsfrage

In "Ekew", der Parsha der vorhin ausgegangenen Woche (wie in anderen Wochenabschnitten auch), macht Gott den Kindern Israels ein Angebot, "das man nicht ablehnen kann": Wenn sie sich an die göttliche Moral halten, die Ureinwohner vertreiben, deren Götzen vernichten usw. usf., wird es ihnen im Verheißenen Lande gut gehen; sonst wird Gott Israel genau das antun, was er mit den anderen Völkern vorhat. Interessanterweise wird diese Sonderstellung Israels hier sowie anderwärts immer wieder auf den Bund zurückgeführt, den Gott mit den Erzvätern geschlossen hat, z. B.: "So gedenke des Ewigen, deines Gottes, denn er ist es, der dir Kraft gibt, Vermögen zu schaffen, auf daß er seinen Bund halte, den er deinen Vätern geschworen, wie jetzt geschieht." (Dwarim 8:18, ins Deutsche von N. H. Tur-Sinai)

Bekanntermaßen wird zuerst Abraham, dann Isaak und schließlich Jakob jeweils auserwählt. Mit Jakob bzw. Israel hört das Auswahlverfahren auf; es ist seine Nachkommenschaft, die Gottes eigenes Volk bildet. Den Anspruch auf diese Sonderstellung - oder die Pflicht, in dieser Rolle zu figurieren - haben wir also ausschließlich deswegen, weil wir Israels Nachkommen sind. Gottes Volk sind wir also nicht deswegen, weil wir die Torah am Sinai bekommen haben, sondern im Gegenteil: Die Torah haben wir bekommen, weil wir Gottes Volk sind, was wiederum unserer Blutlinie entspringt.

Und das erinnert mich an eine Erfahrung, die meine Gedanken wohl geprägt hat: Vor ein paar Jahren - das war kurz vor dem israelischen Unabhängigkeitstag - habe ich im Rahmen meines politischen Engagements eine neue Unabhängigkeitserklärung für den Staat Israels verfasst; die bisherige hat recht wenig mit dem Judentum zu tun, also habe ich sie umgeschrieben und dabei den ursprünglichen Stil bewährt, damit die Korrekturen gleich auffallen. Zum Beispiel: Ben-Gurions Fassung fängt mit folgender Aussage an: "Im Lande Israels kam das jüdische Volk zustande [...]"; dies habe ich in der ersten Fassung (es gab mehrere) ersetzt durch: "Am Berg Sinai entstand das Volk Israel [...]". Die verbesserte Erklärung habe ich herumgeschickt; die Resonanz war i. d. R. positiv, manchmal wurde auch Kritik geäußert. Eine Antwort bewahre ich besonders gut auf, nämlich die von Rabbiner Uri Sherki, der in derselben politischen Bewegung mitwirkt und mir damals Folgendes geschrieben hat:

Meiner Meinung nach gilt die Aussage, dass das Volk Israel am Berg Sinai geboren wäre, als Ketzerei [doppelte Hervorhebung im Original], weil sie den nationalen Charakter Israels leugnet und unsere ganze Identität auf religiöser Grundlage aufbauen möchte [...] Es sei daran erinnert, dass Mose der ultra-orthodxen Versuchung widerstand, mit der Gott ihn prüfen wollte, als er ihm sagte, er würde Israel vernichten, weil es gegen die Sinai-Lehre verstieß; da erwiderte Mose [Schmot 32:13]: "Gedenke es Abraham, Jizhak und Israel [deinen Knechten, denen du bei dir geschworen hast...]" - das heißt, dass [das Volk] Israel zuallererst Nachkommen der Erzväter und erst nachher [=daraufhin] Jünger Moses sind.


Vor diesem Hintergrund erscheint die Übertrittsfrage recht schwierig. Im Gegensatz zum Christentum, das auf dem Glauben an die heilsgeschichtliche Rolle Jesu, d.h. auf einer Idee basiert, zu der man sich "einfach" bekennen kann, spielt im Judentum die Idee (verkörpert v. a. im jüdischen Recht) eine erst zweitrangige Rolle; sie unterliegt nämlich dem (angeblich) objektiven Umstand, dass man Jude ist (oder nicht). So dürfen sich Nichtjuden z. B. nicht an die Schabbes-Vorschriften halten; sonst sollten sie mit dem Tode bestraft werden. Übertrittskandidaten, die sich auf ihr neues Leben vorbereiten, müssen daher jeden Schabbes einen kleinen Verstoß gegen die Schabbes-Vorschriften begehen. Erst wenn man Jude wird, darf bzw. muss man sich an das jüdische Recht halten. Doch wie kann man eigentlich Jude werden, wenn es auf ein Glaubensbekenntnis ankommt, d.h. wenn die Sache von vornherein nicht universell gemeint ist?

Diese Frage beantwortet die lurianische Kabbalah mithilfe von Begriffen ("Funken" und "Schalen") aus dem eigenen System dieser Mystik. Sieht man davon ab, so bleibt die rechtsphilosophische Frage bestehen: Wie kann ein nichtjüdisch Geborener in eine fremde Blutlinie eintreten?

Im Judentum gibt es eigentlich keine Nachnamen; man (X) ist der Sohn (bzw. die Tochter) seines Vaters (Y) und seiner Mutter (Z), je nach der Situation: Wenn man bspw. in der Synagoge zum Lesen von der Thora aufgerufen wird, heißt man "X, der Sohn von Y". Wenn man aber - Gott behüte - krank wird und andere wollen Gott um seine Genesung bitten, heißt er "X, der Sohn von Z". Und warum habe ich es erwähnt? Weil Proselyten, die als Neugeborene nichts mehr mit den biologischen Eltern zu tun haben sollen, interessanterweise dem Erzvater Abraham und der Erzmutter Sarah zugeschrieben werden, was nun genauso für die Araber in ihrer Rolle als Ismaeliten sowie für die Christen in der Rolle Esaws gilt.

Mit anderen Worten: Proselyten werden - auch bzw. gerade nach dem erfolgreichen Übertritt - nicht dem Erzvater zugeschrieben, der am Ende des göttlichen Auswahlverfahrens steht: Jakob bzw. Israel. Der Bezug des Proselyten auf die Blutlinie Israels ist also eher problematisch, d.h. ein nichtjüdisch Geborener kann in diese Blutlinie nicht wirklich eintreten. Dies hat z. B. zur Folge, dass einem Priester (heb. Cohen) eine Proselytin verboten ist (d.h. er darf sie nicht heiraten oder begatten).

In diesem Zusammenhang wäre es wohl gut zu bemerken, dass im Judentum - im Gegensatz zur üblichen (aber falschen) Meinung - nicht die Mutter, sondern der Vater die Blutlinie bestimmt (vgl. etwa bei Leviten im Allgemeinen und bei Priestern im Besonderen). Nur bei Mischehen jeder Art wird der Vater ausgeschlossen und die Blutlinie nach der Mutter bestimmt. Und dennoch: Eine jüdisch Geborene, bei der die Mutter zwar Jüdin, der Vater aber keiner ist, ist einem Priester ebenfalls verboten.

Bei den Kindern des (bzw. der) Proselyten tritt diese Schwierigkeit übrigens nicht mehr auf. Das Kind X ist dann einfach der Sohn (bzw. die Tochter) des Vaters Y und der Mutter Z (der übergetretene Elternteil hat bei seiner Neugeburt einen neuen, hebräischen Namen bekommen).

a gut Woch,
Yoav

P.S. Woran lässt sich eine gute Bibelübersetzung am schnellsten erkennen? Eine Faustregel: Man schlägt die erste Seite auf und prüft, ob in Bereschis (1. Mose) 1:5 nicht "erster Tag" oder "Tag eins", wie in den christlichen Übersetzungen üblich, sondern "ein Tag" geschrieben steht. Der Grund für diese im hebräischen Original vorhandene Differenzierung ist, dass es bis zum zweiten Tag noch keine Reihenfolge und folglich auch noch kein erster Tag gab. Unter den deutsch-christlichen Übersetzungen ist die revidierte Elberfelder m. W. die einzige, die diese Prüfung besteht.

Freitag, 3. August 2007

Himmel auf Erden

Ohne unnötigen Kommentar:

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a gutn Schabbes, taiere Jidn!