Beim Mittagsessen habe ich im Phoenix die heutige Bundestagssitzung gesehen, wo u. a. auch über Genitalverstümmelung diskutiert worden ist. Eine Frau von der CDU, an deren Namen ich mich nicht mehr erinnern kann, hat dort gesagt: "Die weibliche Genitalverstümmelung ist weder durch Tradition noch durch Religion zu rechtfertigen." (Nachher habe ich den Satz anscheinend wortgetreu auf der Website der CDU gefunden.) Natürlich bin ich ebenfalls gegen diese Sitte, nur würde ich nicht behaupten, dass sie "weder durch Tradition noch durch Religion zu rechtfertigen" wäre; ganz im Gegenteil: Alle Sitten, darunter diese wie auch die der männlichen Beschneidung im Judentum, auf die wir noch zurückkommen, lassen sich eben nur durch Tradition und Religion rechtfertigen, wenn man in Bezug auf Sitten überhaupt den Begriff "Rechtfertigung" gebrauchen kann.
Das Wichtigste am oben zitierten Satz ist also, was damit eben nicht gesagt wird: Nämlich, dass die ganze Sache eigentlich nichts mit Tradition und Religion als solchen zu tun hat, denn eigentlich ist es die in unserer heutigen Gesellschaftsordnung dominierende Vernunft der Aufklärung (mit oder ohne Anführungszeichen), durch die diese - auch m. M. n. menschenverachtende! - Sitte nicht zu rechtfertigen sei. Es ist eben diese in sich geschlossene Vernunft, die diese Rechtfertigung zuerst überhaupt verlangt, um sich dann zum Richter darüber - und eigentlich über alles Menschliche - aufzuwerfen und das Verlangte somit schon von vornherein zu verunmöglichen. Die rhetorische Forderung nach Rechtfertigung ist folglich nichts mehr als eine euphemistische Falle, die eine selbstgefällige Pseudodiskussion schafft, indem sie uns dorthin (ver)führt, wo eigentlich keine echte Diskussion mehr möglich ist. Die aufklärerische Vernunft ist selbst eine zwar junge, aber sehr gut verhüllte Tradition und Religion. Sie diskutiert nicht mit ihren Konkurrenten; sie duldet sie nur, um sich selbst als aufgeschlossen und weltoffen zu gefallen. Das tut sie jedoch nur solange sich fremde, also nicht aufklärerische Tradition und Religion friedlich mit deren Restplatz am Rande der aufklärerischen Gesellschaftsordnung begnügen können. In dem Moment, wo die Konkurrenz den aufklärerischen Fanatismus herausfordert - etwa durch mit fremden Werten, fremder Moral zusammenhängende Sitten -, wird sie nicht mehr geduldet, sondern fortan - etwa als "ungerechtfertigt" - ausgeschlossen.
Wie gesagt, bin ich ja auch ausgesprochen gegen die weibliche Genitalverstümmelung, was aber im Vergleich mit der männlichen, etwa im Judentum, große Schwierigkeiten erzeugt, insbesondere wenn man sich an den Streit um die jüdische Beschneidung im 18. und 19. Jahrhundert erinnert: Damals wurde diese jüdische Sitte - und somit die jüdische Tradition und Religion schlechthin - mit aufklärerischen, also wissenschaftlichen bzw. medizinischen Argumenten angegriffen und zwar nicht nur von antiemanzipatorischen Nichtjuden, sondern auch von in die aufgeklärte Umgebung assimilierten Juden. Daraufhin fühlten sich manche Juden gezwungen, die Beschneidung zu rechtfertigen, selbstverständlich nach den erzwungenen Spielregeln der aufgeklärten, also medizinischen Pseudodiskussion. Aber nicht erst in der Neuzeit, sondern bekanntermaßen schon im Altertum wurde die jüdische Moral zum Opfer der jeweiligen Aufgeklärtheit verschiedener Herrscher, die jedoch im Gegensatz zu den europäischen Aufgeklärten nicht nur diese Sitte aufs Schärfste kritisieren und uns somit ausschließen, sondern gerade das Gegenteil davon, nämlich die Beschneidungssitte schlechthin verbieten und uns zur Assimilation zwingen wollten - also nicht so sehr anders, wie man denken möchte, als der heutiger Kreuzzug der Aufgeklärten gegen die weibliche Genitalverstümmelung.
Und heute? Erst nachdem die europäische Aufklärung in ihrer Ausdrucksvielfalt an die Grenzen ihrer falschen Zweifellosigkeit in den Gulags und den KZs gestoßen war, brauchte sich das Judentum in einer deutlichen Manifestation historischer Dialektik nicht mehr zu rechtfertigen. Demzufolge dürfen wir heute gesetzlich ganz, gesellschaftlich fast ungestört unsere Söhne in Abrahams Bund mit Gott hineinbringen bzw. - nach aufklärerischen Maßstäben - genital verstümmeln. Das rührt aber vom Trauma der europäischen Aufklärung her und heißt noch gar nicht, dass die heutigen Aufgeklärten unsere Moral, unsere "Tradition und Religion", unsere Sitten als solche akzeptieren könnten. Darauf, dass sie in der Tat noch immer nicht dazu fähig sind, weist auch die Rechtsstellung des koscheren (und inzwischen auch halalen) Schlächtens hin, das im (in mancher Hinsicht wohl schon) neuen und anderen Deutschland nun wieder erlaubt, aber in anderen, sehr aufgeklärten bzw. nicht selbst von den Spätfolgen der Aufklärung traumatisierten europäischen Ländern, wie Schweden und die Schweiz, noch immer verboten ist.
Und somit gelangen wir zur Gretchenfrage: Wollen wir den Kreuzzug der schon wieder fanatisch wirkenden Aufgeklärten gegen die "ungerechtfertigte" Moral der weiblichen Genitalverstümmelung unterstützen und dabei das Risiko eingehen, dass wir daraufhin unsere eigene männliche Genitalverstümmelung selbst wieder rechtfertigen müssten, wie es heute noch (oder vielleicht: heute schon!) mancherorts mit der Moral des jüdischen Schlächtens steht? Oder wollen wir anderen ersparen, was uns bis vor kurzem so unangenehm war, selbst wenn es um etwas geht, was uns als eine "Perversion" (so auf der besagten Website der CDU) erscheint? Eine klare Antwort kann ich hier nicht geben; jedoch sollen wir unsere Entscheidung - egal, welche - nicht aus falscher Identifikation mit der dominierenden, uns umgebenden aufklärerischen "Vernunft", sondern aus unserem jeweiligen Verständnis jüdischer Moral im Allgemeinen und in Bezuf auf Nichtjuden im Besonderen treffen. Und da muss schon jeder für sich selbst denken.
Donnerstag, 1. Februar 2007
Zur Problematik der Moralpolitik im heutigen Europa
Am 1.2.07
Stichwörter: Aufklärung, Beschneidung, Moral, Schächten
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13 Kommentar(e):
Der Vergleich mit der Vorhautbeschneidung ist an sich schon haarsträubend, aber mir ist natürlich klar, daß es eine reine Arbeitshypothese ist.
"Weibliche Genitalverstümmelung" ist bereits ein Euphemismus. Es handelt sich um die KLITORIS-AMPUTATION, die die Frau als sexuellen Krüppel zurückläßt. Sie kann nie im Leben ein normales Sexuelleben haben. Weibliche "Beschneidung" hätte ihr männliches Gegenstück in der vollständigen Entfernung der Eichel!
Männliche Beschneidung könnte man em ehesten mit einem Vulva-Piercing vergleichen. Definitv auch "verstümmelnd" und eingreifend, aber nicht funktionshemmend, sondern im Gegenteil, es gefällt sehr oft - viele machen es aus kosmetischen Gründen.
Aus diesen Gründen MUSS jede Argumentaion Schiffbruch erleiden, die auf "Aufklärung" und "Säkularisierung" abzielt. Was die CDU absondert, ist IMHO inkonsequent, denn sie sollte als C-Partei christliche, und somit religiöse, Traditionen und Argumentationsweisen hochhalten.
Man kommt nicht umhin festzustellen, daß bestimmte Praktiken bestimmter Religionen und Kulturkreise eben barbarischer als andere sind. Eine Vorhautbeschneidung und ein Ohrringstechen stehen in keinem Verhältnis zur Verkrüppelung von Mädchen mit einer Glasscherbe. Es sind eben nicht alle Kulturen gleich. Und kein Land MUSS die Praktiken ALLER Kulturen innerhalb seiner Grenzen dulden. Aber zu dieser Aussage wird sich kein Politiker bewegen lassen, dem sein (politisches) Leben lieb ist.
An die Schmetterlingsfrau:
Du hast mit (fast) allem Recht, nur gehst du m. E. am Eigentlichen vorbei: Menschen tut sich viel Schreckliches an, manche Frauen lassen sich sogar sterilisieren usw.; es geht hier also nicht um den Grad des Schrecklichen, sondern darum, dass dem Mädchen die Klitorisamputation gegen seinen Willen aufgezwungen wird - was nun genau so, aber wirklich genau so auf jüdische Säuglinge zutrifft. Die beiden Riten unterscheiden sich zugegebenermaßen quantitativ, aber qualitativ stehen sie auf demselben Niveau. Wie schrecklich das Erzwungene in unseren Augen ist, spiel hier höchtens eine Nebenrolle, denn am wichtigsten ist, dass die "Operation" in beiden Fällen gegen den klaren Willen des hilflosen Opfers durchgeführt wird. Wenn ich kein Jude wäre, wäre ich wahrscheinlich genau so gegen den jüdischen Ritus wie ich tatsächlich gegen den nichtjüdischen bin.
Und im Übrigen: Auch ich erachte "bestimmte Praktiken bestimmter Religionen und Kulturkreise" für "barbarischer als andere"; nur bin ich mir dessen bewusst, dass das meine Meinung ist, die nicht unbedingt auf andere und wohl gar nicht auf die Betroffenen zutrifft. Aber "festzustellen", dass sie so sind - das ist die selbstgerechte Intoleranz der Aufklärung, die sich selbst so gerne blind macht. Immerhin hat man in Afrika bei allen Fällen von Völkermord usw. noch keine Gaskammer gebaut, oder? Und damit hier kein Zweifel entsteht: Dass ich mir bewusst bin, dass bestimmte Riten nur meiner, aber nicht aller Menschen Meinung nach barbarisch sind, hindert mich daran, diese Riten ebenfalls verbieten zu wollen. Im Gegensatz zu den Aufgeklärten, brauche ich meiner bewusst subjektiven Meinung keine Scheinobjektivität zuzuschreiben, um ihr somit Gültigkeit zu verleihen. Mit anderen Worten: Ich bin wahrscheinlich genauso intolerant wie du, nur aber ohne [die aufklärerische Notwendigkeit] zu behaupten, dass meine Intoleranz "objektiv", d.h. die allgemein gültige, einzig richtige Meinung wäre.
Das ist der Punkt. Durch Pseudo-Objektivität und Pseudo-Begründbarkeiten zeichnet sich das aus, was ich gerne politisch korrekt bzw. Gutmenschentum nenne.
Ein Urteil wird gefällt, aber es wird bestritten, daß es aus einer ganz bestimmten Perspektive gefällt wird, sondern es wird behauptet, es entstamme dem rationalen, neutralen Geist der Aufklärung.
Ist natürlich Unsinn. Ich selbst habe kein Problem damit, afrikanische Klitoris-Amputationen samt und sonders abzulehnen und GLEICHZEITIG Jungenbeschneidungen zu akzeptieren. Ebenso Ohrringe bei dreijährigen Mädchen, Zahnspangen bei elfjährigen Kindern und viele viele andere Dinge, die Eltern ihren kleinen Kindern "körperlich antun". (Ich bin nie beschnitten worden, aber ich weiß ja nicht, ob du Erfahrungen mit Ohrringen und Zahnspangen hast - das ist ebenso körperliche Qual, die einem Kind aufgezwungen wird - nicht aus religiösen Zwecken aber aus Zwecken der Schönheit.)
Das Problem ist: Wir (die Europäer meine ich), haben Schwierigkeiten, Standpunkte zu beziehen, die europäischen Werten dienen. Bei uns kommen Klitorisamputationen eben nicht vor. Ob man jüdische Bescnhneidungen toleriert oder nicht ist eine andere Frage - sie hängt davon ab, inwiefern das als europäische Kultur gelten soll. Ich esse jedenfalls mein geschächtetes Fleisch - aber ich bin auch in Israel.
Rationale Begründungen oder Gesetze sind ein Problem: Denn wenn Kirchenglocken tönen dürfen, dann wohl auch der Muezzin. Und wenn Juden schächten dürfen, dann wohl auch Moslems. Das ist das Dilemma das entsteht, wenn Standpunkte nicht erlaubt sind und nur mehr Prinzipien herrschen dürfen.
Err... Ein ganz wichtiges Wort hat sich in meiner vorigen Antwort fallen lassen; es muss natürlich lauten: "hindert mich NICHT daran, diese Riten ebenfalls verbieten zu wollen."
Ich bin hingegen für Prinzipien und verstehe übrigens unter "Standpunkt" schließlich doch auch eine auf Prinzipien beruhende Rationalisierung.
Für mich lautet die eigentliche Frage also nicht, ob mir die Amputation gefällt oder nicht, sondern ob die Gesellschaft in solchen Fällen einmischen darf bzw. muss. Wenn ich etwa gegen die Beschneidung jüdischer Säuglinge wäre ABER ein Recht der Gesellschaft, die Beschneidung zu verbieten, nicht anerkennte, würde ich an der Seite der Juden gegen das Verbot kämpfen. Und umgekehrt: Wenn ich das Recht der Gesellschaft anerkenne, die Klitorisamputation zu verbieten, dann hat sie in meinen Augen eigentlich die Pflicht, dieses Verbot zu erzwingen, und zwar nicht nur hierzulande, sondern überall auf der Welt. So würde es mich etwa sehr freuen, wenn die jüdische Armee nicht nur die Araber bekämpfen, sondern auch dem Völkermord in Darfur ein Ende machen würde bzw. könnte (zurzeit scheint sie jedoch zu beidem unfähig zu sein).
Ach ja, das Eigentliche habe ich irgendwie vergessen: Meiner Meinung nach setzt die Beantwortung dieser (in den beiden Sinnen des Wortes "Recht") rechtlichen Frage (ob die Gesellschaft das Recht bzw. die Pflicht hat, so ein Verbot zu erzwingen) eine auf Prinzipien beruhende Rationalisierung voraus.
Das ist eine schwere Frage. Wenn du diese Dinge überall auf der Welt verbieten willst, setzt du dich schnell dem Vorwurf des "Kulturimperialismus" aus.
Wenn man jüdische Beschneidungen akzeptiert, kann man dann trotzdem *zumindest im eigenen Land* ein Verbot von Frauenverstümmelungen fordern? Ich denke ja. Wenn man Religionsfreiheit und Recht auf körperliche Unversehrtheit abwiegt (beides rationale Prinzipien!), muß das als Ergebnis herauskommen.
Dreimal täglich sagen wir im Gottesdienst: "Zur Vervollkommnung der Welt in Gottes Reich". Kulturimperialismus? Gerne! Den Juden gibt es nicht umsonst. Nur müssen wir gleichzeitig auch uns selbst verbessern - eine weit schwierigere Aufgabe...
Damit wechselst du aber von der ethischen auf die religiöse Ebene.
Diese Unterscheidung, d.h. der Gedanke, dass Ethik bzw. Moral auch ohne die (religiöse) Vorstellung von einer übermenschlichen Instanz allgemein gültig und verpflichtend wäre, ist eine Lüge, ja Selbstbetrug der Aufklärung, mit dem die späteren Folgen des Gulags und des KZ möglich wurden.
Böse, böse Aufklärung. Warum ruft die Aufklärung so eine Abscheu hervor, dass manche sie direkt/indirekt für die KZs der Nationalsozialisten bzw. die Gulags der Sowjets verantwortlich machen (wollen)? Mit welcher Begründung/Argumentation? - Das würde mich wirklich interessieren.
Und die sattsam bekannte Behauptung, dass sich Ethik auf eine übermenschliche Instanz begründen müsste, entbehrt meiner Meinung nach jeder Grundlage. Für einen offensichtlich historisch interessierten Menschen sollte es eigentlich kein Geheimnis sein, dass sehr viele, sehr grausame Verbrechen eben auf der Grundlage bzw. vor dem Hintergrund übermenschlich begründeter Ethik begangen wurden bzw. erfolgten und erfolgen. Viele rechtfertigten und rechtfertigen ihre Untaten mit dieser "Moral", dieser "Ethik". Ich denke, nur eine konsequent an dem Wohlergehen der Menschen im Diesseits orientierte Ethik kann überhaupt eine humanere, friedfertigere Gesellschaft ermöglichen. Nationalsozialismus und Stalinismus (und viele weitere) hatten rein gar nichts mit Aufklärung zu tun - alle konsequenten Aufklärer wurden in den genannten Systemen verboten, verfolgt, vertrieben und, wenn möglich, ermordet. Man sollte abstruse, antiaufklärerische Ideen wie Eugenik, Rassen-Antisemitismus, etc. nicht mit Aufklärung verwechseln, auch wenn sie wissenschaftlich verbrämt daher kommen.
Noch eine Anmerkung zu dem Hinweis, dass der Blog für den Internet Explorer optimiert wäre und dass Firefox sich nicht an Standards halten würde: Bekanntlich hält sich der IE wesentlich weniger an anerkannte Internet-Standards als z.B. der Firefox. Aber vielleicht ist der Hinweis nur Ironie, ich hoffe es.
Im übrigen sind solche Hinweise schon geraume Zeit nicht mehr Usus, da berechtigterweise erwartet wird, dass Webseiten mit allen Browsern funktionieren bzw. sogar in jedem Browser gleich aussehen (sollten).
An Bright:
Ich habe den Moralbegriff in dieser Diskussion nicht bewertet. Ja, auch Muslime begehen zwar schreckliche Verbrechen, weil ihre islamische Moral sich dazu treibt, aber dadurch wird diese Moral keineswegs weniger moralisch. Ob wir es wollen oder nicht, ist und bleibt sie eine richtige Moral - ohne Anführungszeichen; genau so, wie die nationalsozialistische oder bolschewistische Weltanschauung eine Weltschauung auch dann sind, wenn ich sie als ganz schlecht, schädlich usw. erachte.
Zur übermenschlichen Begründung als Voraussetzung der Moral: Ohne die Zurückführung der Werte auf eine höhrere Instanz - ganz egal, ob es diese nun "wirklich" gibt oder ob sie bloße Einbildung ist - gibt es keine Möglichkeit, den Menschen dazu zu bringen, sich zu bestimmten Werten verpflichtet zu fühlen. Ohne den Vorwand der höheren Instanz kann es nur gesellschaftliche Konventionen geben, die schneller nachgeben, als man denkt - etwa vor der Versuchung berauschender Macht oder vor dem Druck neuer Konventionen. Sowohl Hitler als auch Stalin konnten sich eines Umstands erfreuen, ohne den sie ihre Macht nicht hätten beibehalten können: Des Konsenses unter der breiten Masse, die sich einer übermenschlichen Moral, für welche man kämpfen und sterben sollte, nicht mehr so sicher war.
"Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit", hat Kant geschrieben. Das Problem mit der Aufklärung war aber eben, dass sie ganz leichtfertig davon absah, wie sehr der Mensch von seiner Beschaffenheit her doch unmündig ist, sich blind führen lässt usw. usf.. Nur fühlten sich seine Führer nach der Aufklärung leider zu keiner Moral mehr verpflichtet. Denn wenn es keinen Gott mehr gibt, wenn es nur den Menschen allein gibt, dann braucht man eben keine Rechenschaft mehr ablegen und dem Bösen im Menschen wird erst recht freie Hand gegeben. Die Aufklärung hat das in jedem Menschen vorhandene Ungeheuer, das die dunkle Religion noch gewissermaßen zu verdrängen vermochte, uneinbeschränkt freigelassen.
Ja, die Religion kann - mal verallgemeinert - sehr böse, die Aufklärung aber noch weit böser sein.
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