Wenn man irgendeine heilige Schrift liest (mit oder ohne Anführungszeichen), kann man sich die Inhalte in drei Aspekten überlegen:
1. Ich-Gott: Was bedeutet es für meine Beziehung zu Gott?
2. Mensch-Mitmensch: Was bedeutet es für meine Beziehungen zu den Menschen, mit denen ich in persönlichen Kontakt komme?
- und
3. Gesellschaft als Ganzes: Was bedeutet es für die Art und Weise, in der wir Menschen unser Gemeinwesen strukturieren, organisieren und leiten?
Mit der Entstehung des modernen Staates und insbesondere mit der Verbreitung der liberalen Demokratie hat der dritte und letzte Aspekt sehr stark an Bedeutung gewonnen. Denn seitdem ist jeder von uns in der Lage, sich politisch zu engagieren und das Gemeinwesen mitzugestalten. Nun ist es so, dass das sog. "Alte Testament" im Allgemeinen und das Pentateuch im Besonderen viel mehr gesellschaftsorientierte Fragen aufgreift als etwa das sog. "Neue Testament", das sich eigentlich zu distanzieren versucht ("in dieser Welt, aber nicht von dieser Welt").
Doch gerade im Judentum, wo man sich durch den Jahreskreis hindurch mit dem jeweiligen Wochenabschnitt aus dem Pentateuch befasst, ist die gesellschaftsorientierte Lektüre lange eher vernachlässigt worden. Dies hatte freilich einen guten Grund: Während der langen Exilzeit(en) hatten die Juden ja kein souveränes Gemeinwesen, sondern nur relativ kleine Gemeinden mit sehr beschränkten Autonomierechten. Unter diesen Umständen sind Staatsfragen kaum bis gar nicht aufgetaucht, weshalb sie in der Regel auch nicht aufgegriffen worden (und wenn, dann aber eher als rein theoretisch-philosophische Übung).
Heutzutage, wo die Juden wieder ein souveränes Gemeinwesen, d.h. einen richtigen Staat haben, stehen diese Fragen ganz im Mittelpunkt - oder so soll es zumindest sein. Allgemein gesprochen geht es darum, was für einen Staat wir Juden haben wollen und sollen: einfach einen herzlschen "Judenstaat", d.h. einen normalen Nationalstaat nach abendländischem Muster? Oder eher einen jüdischen Staat, wo sich aber gleich die Frage stellt: Was sind eigentlich die "jüdischen Vorbilder", an denen sich ein "jüdischer Staat" zu orientieren hätte?
Für mich heißt es: Jüdischer Staat. Denn ansonsten ergibt die Existenz des modernen Staates Israels als eine kreuzritterliche Festungsinsel inmitten der feindlichen muslimischen See einfach keinen Sinn. Ganz im Gegenteil: Wenn die Juden nur als Privatpersonen, nicht aber in ihrem Gemeinwesen jüdisch sein sollten, dann könnten die Juden im Ausland eigentlich weit besser und nicht zuletzt auch sicherer leben.
Kurzum: Der Sinn der Souveränität Israels in dem ihm verheißenen Lande liegt nicht so sehr in der Vergangenheit, sondern vornehmlich in der Zukunft. Dies hat also nicht nur mit Realpolitik, sondern m. E. vor allem auch mit dem Gottesverständnis bzw. der Heilsgeschichte zu tun: Israels Aufgabe ist es eben, nicht passiv auf die Endzeit zu warten, sondern als Gottes Volk ganz aktiv die göttlichen Ideale von Freiheit, Gerechtigkeit und Moral hier auf Erden zu verwirklichen - wie es dreimal täglich im Gebet heißt: "zur Vervollkommnung der Welt in Gottes Reich". Uns, die wir dazu auserwählt sind, liegt es also ob, die in unseren Schriften enthaltenen Vorstellungen zu politisieren, d.h. öffentlich, gründlich und praxisorientiert zu besprechen, um sie dann mittels eines jüdischen Staates vorbildlich zu verwirklichen:
Ich, der Ewige, habe dich in Gerechtigkeit gerufen und ergreife dich bei der Hand. Und ich behüte dich und mache dich zum Bund des Volkes, zum Licht der Nationen
- Jesaja 42:6 (meine Hervorhebung, selbstverständlich)
0 Kommentar(e):
Kommentar veröffentlichen