Freitag, 18. Jänner 2008

Wir(?) glücklichen Exponate

"Schafft die Museen ab!" lautet der Titel eines sehr guten Artikels von Philipp Blom (-> Autorseite im Perlentaucher) in der Zeit vom 03. Jänner 2008. Da ich keine Zeit habe, den nicht so kurzen Artikel zusammenzufassen, begnüge ich mich hier mit ein paar Zitaten, die m. E. das Wesentliche vermitteln:

Allerdings haben wir uns längst an das Leben in der Vergangenheit gewöhnt: nicht nur in Museen, auch auf Konzert- und Theaterprogrammen sind wir überwältigt davon. Unsere Kultur selbst ist museal.


Wir brauchen den Ballast der Vergangenheit. Ballast hat die Funktion, dem Vorwärtsgehenden Gewicht und Richtung zu geben. Wer weiterkommen will, braucht Ballast, er muss aber auch bereit sein, einen Teil davon über Bord zu werfen.


Und die prägnante Schlussaussage:

Wir brauchen nichts so sehr wie Mut zur Vergänglichkeit.


Seitdem überlege ich mir, inwiefern Bloms eher allgemeine Feststellungen auf die Juden in Deutschland zutreffen. Genauer gesagt: auf die Funktion des Jüdischen im heutigen Deutschland. Die lange Geschichte der Juden in Deutschland war - und ist noch - so wandelreich, dass man im Rückblick sagen kann: Deutschland hat einen Judenfetisch.

Ob "noch immer" oder "erst recht", ist eine Frage der historischen Perspektive. So oder so führt Deutschland seit 18 Jahren bekanntermaßen ein einzigartiges Projekt durch: die vermeintliche Neubelebung des Vergangenen, das man vormals mit noch größerer Leidenschaft loswerden wollte. Dass es sich dabei um den Import von Menschen handelt, spielt eine genauso geringe Rolle wie die Tatsache, dass die Angelockten kaum etwas mit denjenigen zu tun haben, als deren Ersatz sie fungieren bzw. figurieren sollen. Hauptsache ist nur: Das Vergangene ersteht scheinbar wieder auf, lässt am einst Verdrängten nunmehr obsessiv festhalten und stellt so sicher, dass das endlich Wiedergekehrte nicht das tut, was alles Menschliche früher oder später tun muss: aus dem Blickfeld verschwinden, ja in Vergessenheit geraten.

Mit der gezielten Anwerbung von mehreren Hunderttausenden ehem. Staatsbürger der UdSSR, deren Leistung alleine darin besteht, dass sie für die Behörden der DDR, dann auch für die der BRD das Vergangene darstellten bzw. als Juden (aber notabene: nicht in religiöser Hinsicht!) qualifizierten, hat Deutschland jegliche Chance auf Normalität um Jahrzehnte hinausgeschoben.

Ob es sich im seit Kriegsende erstmals "wiedervereinigten" Deutschland auch anders hätte entwickeln können, ist abermals eine Frage der historiographischen Interpretation. Die im Endeffekt unverwirklichte Alternative könnte z. B. die israelische Szene in Berlin darstellen, für die die neue Judenpolitik Deutschlands im Großen und Ganzen kaum eine Rolle spielt. Jedenfalls hat sich die Geschichte so entwickelt wie wir sie heute kennen, und nun ist Deutschland wohl das einzige Land, in dem Unsummen in die Wiederherstellung von Synagogen investiert werden, die selbst nach dem hunderttausendfachen Judenimport kaum als solche in Anspruch genommen werden und, ihrem eigentlichen Zweck zwangsläufig entfremdet, eher als scheinbar lebendige Museen die städtische Landschaft zieren (vgl. Rykestraße).

Und die importierten Exponate? Sie scheinen sich kaum gegen die ihnen zugeschriebene Funktion zu wehren. Eher im Gegenteil: Sie genießen die materiellen und andersartigen Vorzüge ihrer neuen Stellung, mit der ihre außerordentliche Zuwanderung in den Westen fest gekoppelt ist. In diesem Zusammenhang kommt mir eine Erfahrung in den Sinn, die ich bei der heurigen 9.-November-Gedenkstunde hier in Heidelberg machen durfte. Dazu im nächsten Beitrag - bis dann wünsche ich euch

a gitn Schabbes

Nachtrag [25.01.2008]: Ich habe mich entschlossen, den Beitrag zur Gedenkstunde nicht zu veröffentlichen.

Mittwoch, 16. Jänner 2008

Das sechzigste Jahr

Parlamentsmitglieder fördern eine Initiative des mirabeauschen Militärs, nach der u. a. das Wahlrecht vom Militärdienst abhängig gemacht werden soll.

Staatsbürger werden weiterhin von Terroristen ermordet, deren Milizen die Staatsregierung selbst mit Waffen ausstattet.

Das Universitätswesen lässt sich mangels Studenten-Dozenten-Rektoren-Solidarität zusehends auflösen.

Und die Züge auf dem praktisch zweispurigen Landeseisenbahnnetz fahren noch immer nicht rechtzeitig ab.

[Schweigeminute]


P.S.
Bei dieser Gelegenheit möchte ich euch auf einen wochentäglichen Comicstrip hinweisen, der einem bei der Bewahrung der geistigen Gesundheit zu helfen vermag: Dry Bones

Samstag, 12. Jänner 2008

Ein kleines Stück bubersche Poesie für die neue Woche

Eine Stelle, die mir besonders gut gefallen hat:

Geordnete Welt ist nicht die Weltordnung. Es gibt Augenblicke des verschwiegnen Grundes, in denen Weltordnung geschaut wird, als Gegenwart. Da wird im Flug der Ton vernommen, dessen undeutbares Notenbild die geordnete Welt ist. Diese Augenblicke sind unsterblich, diese sind die vergänglichsten: kein Inhalt kann aus ihnen bewahrt werden [?], aber ihre Kraft geht in die Schöpfung und in die Erkenntnis des Menschen ein, Strahlen ihrer Kraft dringen in die geordnete Welt und schmelzen sie wieder und wieder auf. So die Geschichte des Einzelnen, so die des Geschlechts.

Aus: Martin Buber, Ich und Du (Heidelberg: Lambert Schneider, 1958 [1923]), S. 30-31

Zum obigen Fragezeichen: Wenn ich recht verstehe, was er mit diesen Augenblicken meint, dann bin ich mir nicht so sicher, dass diese Aussage sich verallgemeinern lässt. Jedenfalls stellt sich die Frage, ob diese Stelle nicht schon an und für sich den Beweis dafür liefert, dass aus diesen Augenblicken mannigfaltigen Inhalt bzw. Einblicke in die Beschaffenheit der Schöpfung doch bewahrt werden können (wie Buber es hier ja selbst tut).

Git Woch
Yoav

P.S.
Eine Zumutung? In The Economist weiß man offensichtlich nicht zwischen als Polen und als Juden Verfolgten zu unterscheiden (beachtet das dritte bzw. letzte Bild).

Donnerstag, 10. Jänner 2008

Roland Koch und das politische Klima

Roland Koch schlägt in der Öffentlichkeit bekanntermaßen Wellen. Doch seine Einstellung darf uns gar nicht überraschen. Er ist nur eine von mehreren Blumen im politischen Garten, gewachsen auf dem Nährboden des allgemeinen Integrationsdiskurses. Die Problematik dieses vorherrschenden Denkmusters besteht in der falschen Vorstellung, die ihm zugrunde liegt.

Es wird nämlich suggeriert, dass es eine durch die inländische Herkunft bedingte Gesinnungs- bzw. "Werte"-Gemeinschaft gäbe, zu der "die Ausländer" (v. a. aus dem Südosten, nicht aber die blitzschnell eingebürgerten "Siebenbürger Sachsen") schon aufgrund ihrer ausländischen Herkunft nicht dazugehören - es sei denn natürlich, dass sie sich in die inländlische Gemeinschaft "integriert" hätten. Also wird "den Ausländern" - gemeint sind natürlich nie Neuankömmlinge aus dem Westen und dem Norden - pauschale Verbesserungsbedürftigkeit unterstellt.

Dabei wird vertuscht, dass es diese inländische Wertegemeinschaft nicht gibt - und auch gar nicht geben kann: Viele Einheimische haben Schwierigkeiten, ihren Platz in der bürgerlichen Gesellschaftsordnung zu finden und sich an die bürgerlichen Normen anzupassen. Noch bilden Inländer die überwältigende Mehrheit der hiesigen Delinquenten. Jedoch wird in Bezug auf die Inländer nicht verallgemeinert, und von der Integrationsbedürftigkeit der Deutschen ist in der Öffentlichkeit kein Wort zu hören. Denn Deutsche, das versteht doch jeder, brauchen Hilfe; Ausländer hingegen müssten integriert werden.

Warum fördern also die Politiker der bürgerlichen Mitte trotzdem den Integrationsdiskurs? Ich vermute, dass sie sich gerade deswegen dieser Rhetorik bedienen, weil sie eine exklusive Wirkung hat. Mit ihr wird ein angenehmes Wir-Gefühl verbreitet, das die Wählerschaft zufrieden stellt: "Sind wir nicht toll? Wir haben ja unsere Werte!", redet sich der Junge mit dem Hauptschulabschluss ein und fühlt sich gleich, als würde er dazugehören.

Die bürgerlichen Politiker hoffen, womöglich unbewusst, dass er sich für diese billige Identitätsstiftung mit dem richtigen Stimmzettel noch bedanken wird. Gute Aussichten wird dann der Junge noch immer nicht haben - dafür aber einen moralischen Anspruch... Und den Alten von morgen wird es wohl auch recht sein, sich mangels Arbeitskräfte mit niedrigeren Renten zufrieden geben und auf den gewohnten Pflegestandard verzichten zu müssen, solange Deutschland seine "Werte" noch bewahrt.

Kurzum: Das Problem mit Roland Koch ist nicht sein Extremismus, sondern sein Konformismus.

P.S.
Wie immer... hat sich auch in diesem Fall der Zentralrat gleich zu Wort gemeldet. Chajm hat die Sache schon auf den Punkt gebracht. Auch Adi hat sich kurz dazu geäußert (wenn auch weniger kritisch). Die Preisverleihung an Angela Merkel habe ich übrigens in diesem Beitrag vom 07. November 2007 hinterfragt (ganz am Ende). Eine Frage bleibt aber offen: Was, um Himmels willen, geht es den Zentralrat als Bundesvertretung jüdischer Gemeinden und Landesverbände überhaupt an?

Dienstag, 8. Jänner 2008

Was ist jüdische Literatur?

Heute war eine Professorin für hebräische und jüdische Literatur mit mir darüber einig, dass es eigentlich keine Literaturwissenschaft, sondern höchstens nur verschiedene Lesarten geben kann, die schließlich gleichgültig sind, sobald sie plausibel genug begründet worden sind. Eine erfreuchliche Erfahrung war es für mich, denn beim früheren Studium in Jerusalem ist meine Position auf eher feindselige Reaktionen unter den Dozenten gestoßen. Allerdings war ich dort auch in einem literaturwissenschaftlichen Fach eingeschrieben, was in Zusammenhang mit dieser Position für manche Dozenten wohl eine Zumutung gewesen sein darf. Insbesondere aber für diejenigen, denen es zu Zeiten des allumfassenden Abbaus ganz dringend darum geht, dass ihr Ast nicht abgesägt wird - obwohl die Literaturwissenschaft gerade dazu notwendig ist, damit es Leute gibt, die mit Literatur und Literaturwissenschaft kritisch umgehen können.

Noch schwieriger ist aber die Frage nach der (oder den) jüdischen Literatur(en) als eigenständigem Fach. Mich dünkt, dass es so etwas, wenn überhaupt, nur insofern geben kann, als ein literarischer Text - ganz abgesehen vom Schriftsteller und dessen Herkunft, der Sprache und der Thematik - von jüdischer Begrifflichkeit Gebrauch macht und sich demzufolge denjenigen nicht erschließt, denen bestimmte Vorkenntnisse des Judentums fehlen. Schmuel Josef Agnons "vehaja heakow lemischor" ist ein Beispiel dafür, was aber nicht heißt, dass Agnons Geschichten alle als "jüdische Literatur" qualifizieren können: Viele von denen sind nämlich ganz allgemein nachvollziehbar. Zwar führt diese Begriffsbestimmung zum Verzicht auf vieles, was heute als jüdische Literatur erforscht wird, aber das muss ja kein Nachteil sein, wenn man von der Politik bzw. vom (an und für sich verständlichen) Wunsch absieht, den beruflichen Ast zu bewahren.

"Jüdische Literatur" ist ein kulturabhängiges Konstrukt. Will man ganz wissenschaftlich an die Sache herangehen, so hat man nur eine Möglichkeit, um das "Jüdische" an Texten in verschiednen Kulturkreisen empirisch herauszuarbeiten: Man muss statistisch ausgewählten Leuten aus dem jeweiligen Kulturkreis (aber nicht als Gruppe) namenlose Texte vorlegen und sie um Folgendes bitten:

1. festzustellen, ob es unter den vorgelegten Texten auch Texte gibt, die von jüdischen Autoren stammen und/oder eine jüdische Thematik aufweisen;
2. zu erklären, warum sie zu diesem Schluss gekommen sind, d.h. woran sie es erkannt haben (also eigentlich: erkannt zu haben glauben).

Manche Leute bekommen dann nur Texte, die von jüdischen Autoren stammen; andere eine gemischte Auswahl; und wiederum andere nur solche Texte, von denen keiner meint, dass sie als "jüdische Literatur" qualifizieren. Außerdem kann man bei einigen die erste Frage umformulieren: Welche der vorliegenden Texte stammen von jüdischen Autoren? Und erst recht interessant wird es, wenn man die Leute, die nur "nicht-jüdische" Texte vorgelegt bekommen haben, danach fragt, woran an diesen Texten zu erkennen ist, dass sie von jüdischen Autoren stammen und/oder eine "jüdische" Thematik haben.

Nachtrag [12.01.2008]: Apropos Literaturwissenschaft möchte ich auf einen interessanten Kurzbericht in der Neuen Zürcher Zeitung vom 17. November 2007 hinweisen: "Der Heidelberger Komparatist Horst-Jürgen Gerigk hat sich durch eine ebenso eigenwillige wie originelle Literaturtheorie einen Namen gemacht. Gerigk insistiert auf der Kommentar-Unbedürftigkeit des Kunstwerks: Jeder Text führt die Grundbedingungen seiner Verstehbarkeit bereits mit sich. Die Aufgabe der Literaturwissenschaft besteht mithin nicht in der kulturhistorischen Kommentierung von Texten, sondern in der Darstellung ihres ästhetischen Eigenwerts. [...]" aus: Literatur als Beruf und Berufung

Sonntag, 6. Jänner 2008

Vorsehung: Unbedingt positiv?

Wie in wohl fast jeder religiösen oder philosophischen Lehre ist die Frage nach der göttlichen Einmischung in die Weltgeschehnisse auch im jüdischen "Bücherregal" ziemlich oft aufgegriffen worden.

Im Grunde genommen wird zwischen allgemeiner und individueller Vorsehung unterschieden. Allgemeine Vorsehung bedeutet, dass Gott sein Augenmerk auf die Wesensart als solche richte, d.h. nicht auf jedes einzelne Lebewesen innerhalb der Art, z. B.: Gott habe den Löwen als eine Tierart geschaffen und befasst sich seit der Schöpfung nicht mehr damit, was sich in dem Leben jedes einzelnen Löwen abspielt (daher wird die allgemeine Vorsehung manchmal auch als das Fehlen von Vorsehung bzw. als die Vorherrschaft der Zufälligkeit im Rahmen der von Gott bestimmten Naturgesetzte beschrieben). Demgegenüber bedeutet individuelle Vorsehung, dass Gott alles zur Kenntnis nehme, was der Einzelne tut, und dementsprecehend das Leben dieses Einzelnen gestalte; darauf beruht z. B. der Glaube an Belohnung und Bestrafung (für Verdienste bzw. Sünden).

Zwischenbemerkung: Die reformchristliche Prädestinationslehre, in der alles Geschehende einerseits von Gott ausgehe, andererseits aber nicht auf die Entscheidungen des Einzelnen zurückzuführen, sondern noch vor der Schöpfung der Welt vorherbestimmt worden sei, hat meines Wissens kein jüdisches Gegenstück.

Was die Einzelheiten betrifft, so gehen die Meinungen auseinander. Maimonides hat geglaubt (Moreh Newochim III Kap. 17-18), dass die individuelle Vorsehung nur bei Menschen möglich sei und dass der Grad der Vorsehung bzw. das Ausmaß der göttlichen Einmischung in das Leben des Einzelnen sich nach dem Weisheitsgrad desselben richte (wenn ich mich nicht irre, bilden bei Maimonides Weisheit und Vorsehung verschiedene Aspekte von ein und demselben: der Nähe zu Gott, der die Weisheit an Einzelne verschenkt und mithin auch besser auf diese aufpasst).

Andere (insbesondere im essentialistischen Gedankengut des Chassidismus) sind der Auffassung, dass die individuelle Vorsehung sich auf Israel beschränke und zwar ganz abgesehen vom jeweiligen Weisheitsgrad (hier kann man schon merken, dass in manchen chassidisch-kabbalistischen Lehren Israel aus der Menschheit herausgehoben, die Menschen dabei als höchstes aller tierischen Lebewesen angewesen werden; aber das ist ein anderes Thema).

So weit also die diesmalige Verallgemeinerung. Und warum bin ich darauf überhaupt eingegangen? Weil in den jetzigen Wochenabschnitten (der letzten Woche: "Wa'era"; der jetzigen: "Bo") Gott sich auf eine Art und Weise einmischt, die man immer wieder neu hinterfragen muss. Er fügt nämlich den an diesem Weltgeschehnis eigentlich kaum beteiligten Bewohnern Ägyptens ganz ganz harte Plagen zu, obwohl:

1. es nur der Pharao ist, der Israel nicht ausziehen lässt, und
2. Gott selbst derjenige ist, der den Pharao daran hindert, Israel ausziehen zu lassen.

Und wozu das Ganze? Damit Gott auf diese Art und Weise seine Macht verkündet (vgl. 2. Mose 7:3, 10:1), d.h. damit er sich Ruhm und Ehre verschafft (vgl. etwa 2. Mose 14:4 - gehört schon zum nächsten Wochenabschnitt bzw. zur Seedurchquerung). Von einer (gerechten) Bestrafung kann hier also keine Rede sein (und die Kommentatoren geben sich tatsächlich Mühe, Rechtfertigungen zu finden).

Was haben hier also mit einer Gottesvorstellung zu tun, in der Gott einen Menschen dazu zwingt, ihm den Anlass zu geben, diesen einen und zahlreiche andere zugleich ebenso grausam wie zusammenhangslos zu verfolgen. Vergleicht man es mit anderen Bibelstellen, etwa mit Jesaja 6:9 ff (wo Gottes Zorn gegen das eigene Volk gerichtet wird, während dieses von Gott nunmehr dazu verurteilt wird, nicht zu verstehen, sich nicht zu bekehren und nicht heilen zu lassen), so gewinnt man den Eindruck, dass dieses "Spiel mit sich selbst" auf Kosten lebendiger Menschen eigentlich ein Charakteristikum dieser Gottheit ist, zumindest in der damaligen Zeit.

Inwiefern dieses Verhalten für damalige Götter typisch oder aber das Privilegium einer alleinigen Gottheit war, vermag ich nicht zu sagen; dazu kenne ich mich mit altorientalischer Religiongeschichte kaum gut genug aus. Aber selbst wenn diese Geschichte keine Ausnahme bildet, bleibt eine Frage schweben:

Ist es immer bzw. unbedingt gut, mit göttlicher Vorsehung versehen zu werden? Oder funktioniert die Schöpfung manchmal ungefähr so wie jedes hierarchische System: Je seltener man ins Visier des Chefs gerät, umso geringer sind die Chancen, dass es einem schlecht geht?

Samstag, 5. Jänner 2008

Eine kleine Frage zur Judenmission

Es kommt mir manchmal so vor, als gäbe es nicht wenige, die der Judenmission zu wehren suchen. Na gut, aber da frage ich mich: Was ist eigentlich die "Judenmission"?

Zunächst muss man in diesem Zusammenhang "Juden" definieren: Damit sind wohl Menschen gemeint, die nach einem der üblichen Auffassungen jüdischen Rechts als "Juden" gelten können.

Nun ist die "Mission" zu hinterfragen. Im Duden-Universalwörterbuch steht dazu (unter Punkt 4): "Verbreitung einer religiösen Lehre unter Andersgläubigen, bes. der christlichen Lehre unter Heiden". Aber da taucht die Frage auf: Ist das, was etwa Chabad-Lubawitsch tut, nicht ebenfalls "Mission"? Immerhin versuchen sie Menschen zu einer unter unzählig vielen religiösen Lehren zu bekehren.

Aber warum soll man es eigentlich auf eine "religiöse" Lehre beschränken? Man kann seine Mitmenschen doch auch zum Sozialismus, zum demokratischen Parlamentarismus usw. usf. bekehren. Es ist z. B. eine der Aufgaben der Bundeszentrale für politische Bildung, "das demokratische Bewusstsein zu festigen" (aus der Website der bpb): Mission par excellence.

Warum soll man also gegen die eine Mission, nicht aber gegen die andere sein? Liegt es nicht näher, dass der Mensch als solcher meistens in der Lage ist, selbst darüber zu entscheiden, ob und welche der auf dem Markt beworbenen bzw. einfach zur Verfügung stehenden Gedanken- und sonstigen Güter er konsumieren möchte? ...solange das Ganze zwangsfrei vonstatten geht.

Vielleicht meinen aber die Gegner der Judenmission, dass die christlichen Lehren gefährlicher sind als andere. Nur frage ich mich dann: Warum soll man ausschließlich die Menschen, die man jeweils für Juden hält, vor dieser Gefahr schützen? Warum soll man die anderen im Stich lassen dürfen?

Oder geht es darum, dass die für Juden Gehaltenen weniger dazu fähig sein sollten, solch persönliche Entscheidungen selbst zu treffen?

Git Woch
Yoav

P.S.
Diejenigen, die es noch nicht gelesen haben, möchte ich auf eine interessante Diskussion bei Chajm über die Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg hinweisen.

Freitag, 4. Jänner 2008

Von Gott, dem Glauben und dem Rabbinerberuf: Vorschabbesdike Reflexionen

Gott.

Was ist "Gott"?
Was oder wer ist er/sie/es in seiner jetzigen Beziehung zu mir? zu dir?
König? Vater?
Freund? Feind?
Eine Mischung?
Was ganz anderes?
...darf sich jeder, muss sich keiner fragen.

Aber lässt sich überhaupt eine Aussage machen, die über den jetzigen Augenblick hinausgeht, ohne dabei, wenn nicht gerade dadurch, in die Gefahr des Dogmatismus zu geraten?

*

Mit der Glaubensfrage darf es nichts zu tun haben. Denn die Glaubensfrage ist genauso irreführend wie die nur scheinbar positive, hierzulande gar nicht so seltene Feststellung, Israel habe ein Recht zu existieren: Wenn schon, dann hat Israel aber das Recht darauf, dass über sein Existenzrecht nicht (mehr) diskutiert würde.

Die Glaubensfrage sieht bereits von ihrem Ansatz an völlig von Gott ab. Sie konzentriert sich auf einen innermenschlichen Diskurs, bei dem Gott nur die Kulisse bilden und nie die Bühne betreten darf. Es ist gleichgültig, wie man auf die Frage antwortet: Man hat Gott schon objektiviert. Es ist gleichgültig, woran man jeweils glaubt: Indem man sich den eigenen Glauben definiert hat, ist dieser schon dogmatisch geworden.

Die Glaubensfrage erwartet dort eindeutige Antworten, wo die Wirklichkeit keine zulässt.

*

Wenn Rabbiner nicht nur in ihrer juristischen Funktion denjenigen Rechtsanweisungen erteilen, die sie erhalten wollen, sondern in ihrer seelsorgischen bzw. geistlichen Funktion auch von "Gott" reden: was wissen sie dann, was können sie eigentlich von der Beziehung wissen, die Gott zu anderen hat?

Also - sagt der Modernist - brauchen wir keine Rabbiner mehr.

Aber doch, antwortet der postmoderne Existenzialist: Denn gerade die Rabbiner dürfen diejenigen sein, die genug wissen sollen, um zu wissen, dass sie von der geistigen Wirklichkeit der anderen, von deren Begegnungen mit Gott, von Gottes Beziehungen zu ihnen im Grunde genommen nichts wissen und dies als Menschen auch nicht wirklich wissen können. Nur solche sind imstande, die Gemeinden vor irreführendem Dogmatismus zu schützen, ob dem orthodoxen, dem liberalen oder einem andersartigen.

Dort, wo einer meint, Gott sei böse/gut, Frauen sollten mit den Männern gemeinsam beten oder dies gerade meiden, an der mündlichen Lehre müssten grundsätzliche Änderungen/dürften keine solchen vorgenommen werden usw. usf.: Dort ist es die Aufgabe des Ortsrabbiners, die jeweils andere Seite der Medaille zu erklären.

Schließlich muss die Praktik von der Gemeinde bzw. von jedem einzelnen Mitglied als freiem Menschen "mit den Füßen" gebilligt werden. Eine "Formel für alle" gibt es nicht - und es ist auch gut so. Daher darf sich die Synagoge nicht exklusiv verhalten. Die Praktik darf und soll abgewechselt werden, je nach dem Wunsch und der Initiative der Gemeindemitglieder: Ein guter Rabbiner steht ihnen bei der Verwirklichung ihrer Ideen zur Verfügung.

Wenn einer eindeutige Antworten bekommen will, wird es zur Aufgabe des Rabbiners erstens zu veranschaulichen, dass es im Bereich des Geistigen keine geben kann, und zweitens dem Fragenden zur geistigen Eigenständigkeit zu verhelfen. Denn das Bedürfnis nach übermäßiger Eindeutigkeit weist - nicht nur im geistigen, sondern etwa auch im zwischenmenschlichen Bereich - auf Wackeligkeit im entsprechenden Bereich innerhalb der eigenen Persönlichkeit hin. Das schlimmste, was der Rabbiner in solch einer Situation machen kann, ist diese gefährliche Tendenz nur noch zu stärken.

Es ist die Aufgabe des Rabbiners wie des Lehrers und des Dozenten: Den Mitmenschen, die es wollen, dorthin zu helfen, wo sie keines mehr bedürfen.

Eigenständigkeit und verantwortungsvolle Souveränität beim schwierigen Umgang mit dem Göttlichen nicht nur aufzuweisen, sondern auch zu verbreiten: Das wären meine Erwartungen von einem Rabbiner im 21. Jahrhundert.

*

Jüdisch zu leben, das heißt: Den immer währenden Fragezeichen nicht zu entfliehen, weder den verlockenden Antworten des Glaubens noch der trügerischen Einfachheit des Atheismus zu verfallen.

Donnerstag, 3. Jänner 2008

Privatisierung, aber anders?

Liebe Leser,

gibt es auf Erden noch ein Land, wo an staatlichen (!) Universitäten nicht nur kleinere Einrichtungen wie Forschungszentren, Lehrstühle etc., sondern auch ganze Fakultäten plötzlich nach Personen benannt werden, die entweder zur Erhaltung der Fakultäten in deren jetzigem Zustand gespendet haben oder im besten Fall die Eltern solcher Spender gewesen sind?

Und wenn ihr mir nicht glaubt:
http://www.tau.ac.il/units-eng.html
(...ist wohl keine Neuigkeit mehr, aber mir als Produkt der Hebräischen Universität Jerusalem erst jetzt aufgefallen)

Schöne Grüße
Yoav

Dienstag, 1. Jänner 2008

Interessantes für den Feiertag

Hallo allerseits,

wenn ihr heute nichts Besonderes vorhabt, helfen euch folgende Artikel vielleicht weiter:

Eurozine bringt einen Artikel von Gerard Delanty zum Thema Vielfalt/Diversity und europäisches Selbstverständnis: "The simple appeal to Europe's diversity will not be enough since many of the problems which diversity is intended to solve are produced by the very national models that are regarded as the carriers of diversity. A step in the right direction would be an intercultural dialogue regarding the different European understandings of diversity and an exploration of ways to reconcile the divergent western, central, and eastern approaches to cultural diversity." Aus: Peripheries and borders in a post-western Europe

Das österreichische Indymedia erklärt das neue Grenzkonzept des Schengenlandes: "Die Entfernung zwischen „uns“ und den „Anderen“ findet also nicht mehr über eine Grenzlinie, kontrolliert von ZollwächterInnen, statt, deren Ort auf jedem Atlas ersichtlich ist. Die Entfernung zum Anderen, die Entfernung der Anderen ist nun großräumig und de facto überall." Aus: Erweiterte Grenzen überall

Wie sich die neue Vorstellung von scheinbar klaren Trennlinien technisch anwenden lässt, erklärt das bundesrepublikanische Indymedia: "Die Festung Europa unterhält ein umfassendes Netz moderner elektronischer Datenbanken zur Migrationskontrolle, Strafverfolgung sowie Prävention, das zu Recht als "panoptisches Gehirn" bezeichnet werden kann. [...] Doch ein Panopticon nach Foucault hat aufgrund allgegenwärtiger Überwachung auch eine soziale Konformität des Individuums als Resultat. Daher betrifft diese Entwicklung im Endeffekt alle Menschen, innerhalb oder außerhalb der EU." Aus: Das panoptische Gehirn der Festung Europa

Und wenn euch die angekündigten Maßnahmen ausreichend stören: Der Salzburger David Röthler weist auf eine Petition gegen den Überwachungsstaat hin. Allerdings scheint sie auf Österreich beschänkt zu sein.

In der neuen Literaturen-Ausgabe ("Schreiben jetzt. Wie Autoren auf dem Markt überleben") lässt sich eine interessante Diskussion über den jetzigen Stand der (deutschen) Literatur finden bzw. "[ü]ber den Roman als Allesfresser, Naturwissenschaft in der Literatur, Schreiben als Kunst des Fahrradfahrens, einen Lokführerstreik der Literaturkritik und kulturpessimistische Szenarien, die keine Drohung sein können." Aus: Die Stunde der kleinen Nager

Apropos Schreiben: Inmitten der jetzigen "Welle" in der Diskussion über Blogs etc. hat mir Stefan Niggemeiers Beitrag in der taz besonders gut gefallen (und nein, das ist kein Kompliment an mich selbst. Mit durchschnittlich 30 Besuchern pro Tag gehört man wohl noch nicht dazu): "Das große Versprechen der Demokratisierung des Publizierens ist nicht die Herrschaft der ahnungslosen Masse. Es ist die Chance, die Vorteile der professionalisierten Wissensproduktion mit der Intelligenz der Masse zu kombinieren." Aus: Die Arroganz der Papierverfechter

Denjenigen, die sich gerne was wünschen lassen, wünsche ich ein gut und leicht gelungenes 2008, allen anderen einen angenehmen Feiertag noch!