Im jüdischen Kalender lesen wir zurzeit die Wochenabschnitte zur Erlösung aus dem ägyptischen Exil, im europäischen Kalender kommt gleich der »Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus«, also der Tag der Befreiung der letzten Auschwitz-Häftlinge. Dieser Zusammenhang lädt uns zum Vergleich ein: Was dachten sich die Kinder Israels bei der Verfolgung, als die Ägypter sie versklavten und deren Söhne ermorden wollten? »Und sie schrien«, erzählt uns die Thorah und lässt vermuten, dass sie sich fragten, was sie denn getan hätten, weshalb sie jetzt so sehr bestraft werden müssten. Da könnte man auch heute fragen, worauf Gott damals noch wartete, warum er dieses Schicksal überhaupt zuließ. Diese Schwierigkeiten werden aber noch verstärkt, wenn wir erfahren, dass es gerade Gott war, der das Herz des Pharao verhärtete, der also über Pharao die Verfolgung seines eigenen Volkes verschlimmerte. Die ganze Katastrophe war mithin eine rein göttliche Produktion! Aber was wäre denn die Sünde des Volkes gewesen, die diese Katastrophe erklären könnte?
Heutzutage sagen viele Leute, dass es Begebenheiten gibt, die sich nicht erklären lassen. So eine soll etwa die Schoah sein. In der Tat können wir auch in der Thorah keine Sünde finden, wegen deren Gott die Kinder Israels bestraft hätte, geschweige denn eine so schlimme, um damit die Verfolgung in Ägypten erklären zu können. Trotzdem sind wir in der Lage, dieses Rätsel zu lösen. Dazu müssen wir mehrere Jahrhunderte, bis in die Zeit des ersten Erzvaters, Abrahams, zurückgehen. Im Wochenabschnitt »Lech Lecha« wird uns von Abrahams – der damals noch Awram hieß – erstem Bündnis mit Gott erzählt (Bereschit/Genesis 15), in dem Gott ihm u. a. versprach, dass seine Nachkommenschaft im Exil noch verfolgt und versklavt werden wird. Wichtig ist jetzt für uns nicht nur, dass jene frühere Katastrophe von Gott vorherbestimmt wurde, sondern vor allem auch, dass sie vom Initiator selbst auf keine Ursache zurückgeführt wird! Ganz im Gegenteil, denn Gott versprach ferner, dass die Opfer dieser Verfolgung später »mit großem Vermögen« ausziehen werden. Der Sinn der Katastrophe ist folglich nicht in deren Vergangenheit, sondern in deren (damaligen) Zukunft zu suchen; und tatsächlich lesen wir zurzeit, dass Gott den Pharao immer wieder dazu bringt, den Gräuel der Verfolgung weiterzuführen – aber nicht wegen einer Ursache, sondern zu einem Zweck, und zwar um sein Volk mit vielen Zeichen und Wundern aus Ägypten zu führen.
Mit diesem Musterbeispiel will uns die Thorah lehren, dass den Schlüssel zum Verständnis der Geschichte von einem jüdischen Gesichtspunkt aus nicht in der Vergangenheit, sondern vielmehr in der Zukunft der jeweiligen Begebenheit liegt. Warum hat es also die Schoah gegeben? Diese Frage teilt sich, wie wir nun wissen, in zwei: »Weshalb?« und »Wozu?«. Um die Ursachen bemüht sich noch immer die Geschichtswissenschaft, die schon sehr interessante Interpretationsversuche bieten kann; nach dem bzw. den Zwecken dieser jüngeren Katastrophe muss jedoch jeder von uns selbst suchen. Nicht wir, die wir ja noch keine richtige Perspektive haben, sondern erst die künftigen Generationen werden beurteilen können, welche der vielen Vermutungen in Anbetracht der geschichtlichen Entwicklungen sinnvoller erscheinen. Nichtsdestoweniger liegt es an uns, unsere Nachkommen mit Möglichkeiten auszustatten, die Worte des Propheten auf unsere Zeit anzuwenden (Jesaja 45, 7): »Ich erschaffe das Licht und mache das Dunkel, ich bewirke das Heil und erschaffe das Unheil. Ich bin der Herr, der das alles vollbringt!«
P.S. Wenn wir Hitler schon erwähnt haben: Gestern habe ich Dany Levis "Mein Führer" gesehen. Nein, der Film verstößt nicht gegen den guten Geschmack oder irgendeines "richtige" Geschichtsverständnis; dafür ist er einfach zu banal. Man muss sich schon mühen, um selten ein Lächeln zu erzwingen, denn in der Regel wird man von enttäuschender Langeweile überwältigt. Kurzum ist der Film nicht einmal eine Diksussion wert - schon aber die Gesellschaft, in der man mit dieser Überflüssigkeit so viel Aufmerksamkeit (und nicht zuletzt auch Geld!) verdienen kann. Tut euch selbst also einen Gefallen und spendet diese 6 Euro an die Bedürftigen.