Dienstag, 8. Jänner 2008

Was ist jüdische Literatur?

Heute war eine Professorin für hebräische und jüdische Literatur mit mir darüber einig, dass es eigentlich keine Literaturwissenschaft, sondern höchstens nur verschiedene Lesarten geben kann, die schließlich gleichgültig sind, sobald sie plausibel genug begründet worden sind. Eine erfreuchliche Erfahrung war es für mich, denn beim früheren Studium in Jerusalem ist meine Position auf eher feindselige Reaktionen unter den Dozenten gestoßen. Allerdings war ich dort auch in einem literaturwissenschaftlichen Fach eingeschrieben, was in Zusammenhang mit dieser Position für manche Dozenten wohl eine Zumutung gewesen sein darf. Insbesondere aber für diejenigen, denen es zu Zeiten des allumfassenden Abbaus ganz dringend darum geht, dass ihr Ast nicht abgesägt wird - obwohl die Literaturwissenschaft gerade dazu notwendig ist, damit es Leute gibt, die mit Literatur und Literaturwissenschaft kritisch umgehen können.

Noch schwieriger ist aber die Frage nach der (oder den) jüdischen Literatur(en) als eigenständigem Fach. Mich dünkt, dass es so etwas, wenn überhaupt, nur insofern geben kann, als ein literarischer Text - ganz abgesehen vom Schriftsteller und dessen Herkunft, der Sprache und der Thematik - von jüdischer Begrifflichkeit Gebrauch macht und sich demzufolge denjenigen nicht erschließt, denen bestimmte Vorkenntnisse des Judentums fehlen. Schmuel Josef Agnons "vehaja heakow lemischor" ist ein Beispiel dafür, was aber nicht heißt, dass Agnons Geschichten alle als "jüdische Literatur" qualifizieren können: Viele von denen sind nämlich ganz allgemein nachvollziehbar. Zwar führt diese Begriffsbestimmung zum Verzicht auf vieles, was heute als jüdische Literatur erforscht wird, aber das muss ja kein Nachteil sein, wenn man von der Politik bzw. vom (an und für sich verständlichen) Wunsch absieht, den beruflichen Ast zu bewahren.

"Jüdische Literatur" ist ein kulturabhängiges Konstrukt. Will man ganz wissenschaftlich an die Sache herangehen, so hat man nur eine Möglichkeit, um das "Jüdische" an Texten in verschiednen Kulturkreisen empirisch herauszuarbeiten: Man muss statistisch ausgewählten Leuten aus dem jeweiligen Kulturkreis (aber nicht als Gruppe) namenlose Texte vorlegen und sie um Folgendes bitten:

1. festzustellen, ob es unter den vorgelegten Texten auch Texte gibt, die von jüdischen Autoren stammen und/oder eine jüdische Thematik aufweisen;
2. zu erklären, warum sie zu diesem Schluss gekommen sind, d.h. woran sie es erkannt haben (also eigentlich: erkannt zu haben glauben).

Manche Leute bekommen dann nur Texte, die von jüdischen Autoren stammen; andere eine gemischte Auswahl; und wiederum andere nur solche Texte, von denen keiner meint, dass sie als "jüdische Literatur" qualifizieren. Außerdem kann man bei einigen die erste Frage umformulieren: Welche der vorliegenden Texte stammen von jüdischen Autoren? Und erst recht interessant wird es, wenn man die Leute, die nur "nicht-jüdische" Texte vorgelegt bekommen haben, danach fragt, woran an diesen Texten zu erkennen ist, dass sie von jüdischen Autoren stammen und/oder eine "jüdische" Thematik haben.

Nachtrag [12.01.2008]: Apropos Literaturwissenschaft möchte ich auf einen interessanten Kurzbericht in der Neuen Zürcher Zeitung vom 17. November 2007 hinweisen: "Der Heidelberger Komparatist Horst-Jürgen Gerigk hat sich durch eine ebenso eigenwillige wie originelle Literaturtheorie einen Namen gemacht. Gerigk insistiert auf der Kommentar-Unbedürftigkeit des Kunstwerks: Jeder Text führt die Grundbedingungen seiner Verstehbarkeit bereits mit sich. Die Aufgabe der Literaturwissenschaft besteht mithin nicht in der kulturhistorischen Kommentierung von Texten, sondern in der Darstellung ihres ästhetischen Eigenwerts. [...]" aus: Literatur als Beruf und Berufung

2 Kommentar(e):

Anonym hat gesagt…

Grüß Dich Yoav,

so sehr Du Dich ins Zeug legst, interessante Aspekte zur Frage "Was ist jüdische Literatur?" aufzuzeigen, ich finde diese Frage und ebenso die Frage "Was ist deutsche, angelsächsische, amerikanische, afrikanische, japanische ... Literatur?" sekundär im Vergleich zu Fragen wie: "Was ist gute Literatur?" oder "Wer liest heute noch Bücher im Zeitalter des Internets?" oder "Was bringt einem Juden, Palästinenser, Deutschen, Russen, Amerikaner, Chinesen ... jüdische (Literatur), wenn eine Bombe in sein Haus kracht und alle seine Bücher verbrennt?" oder "Sollte sich Literaturwissenschaft primär mit dem Kampf gegen Analphabetismus beschäftigen?" ...
Sind wir doch alle froh, wenn wir überhaupt noch Zeit zum Lesen haben und von irgendwelchen Büchern angetan sind und übertreiben wir es nicht mit Haarspaltereien und Spitzfindigkeiten!
Schreiben wir doch lieber mal einem Autor, der uns gefallen hat, einen Dankesbrief!

Anonym hat gesagt…

wurzelsepp ist eigentlich
Christoph.Hans.Messner@gmx.de
und der findet gute Bücher gut, egal von welcher Nationalität.
Yoav, geht's Dir nicht auch so?